Nicht überall, wo von Schwärmen gesprochen wird, ist auch die biologische Kategorie gemeint. Ersatzweise ist von den „vielen“ die Rede oder von „Crowds“. Das verweist darauf, dass der Begriff „Schwarm“ gegenwärtig synonym für das benutzt wird, was sonst „Masse“ heißt. Das ist zwar wissenschaftlich nicht ganz sauber, aber auf der Beschreibungsebene durchaus sinnvoll. Georg Milzner erläutert: „Und zwar weil Schwarm und Masse anders als geleitete Gruppen ohne Führung funktionieren. Sie bewegen sich aus sich selbst heraus.“ Aber will man das – Masse sein? Der Begriff „Massengeschmack“ hat ja durchaus einen abwertenden Unterton. Der Schriftsteller Elias Canetti hat mit seinem Buch „Masse und Macht“ einen der wichtigsten Beiträge zum Verständnis der Massen geliefert. Georg Milzner ist Diplompsychologe und arbeitet in eigener Praxis als Psychotherapeut.
Bei den sozialen Foren handelt es sich um offene Massen
Elias Canetti, der Massen nicht verächtlich anschaute, sie aber immer in Beziehung zu möglicher Gewalt setzte, unterschied zwischen verschiedenen Massentypen. So nannte er neben der „offiziellen Masse“ etwa die „Hetzmasse“, die man etwa von gewalttätigen Übergriffen auf der Straße oder gegenüber Asylbewerberwohnheimen kennt oder auch die „Verbotsmasse“ bei Streiks oder auch bei Sitzblockaden. Manche Massen haben eine exklusive Struktur wie etwa da, wo es um Hautfarbe, Nationalität oder Religionszugehörigkeit geht.
„Offene Massen“ dagegen sind allen, die sich anschließen wollen, zugänglich. Die offene Masse will geradezu wachsen, denn sie hat eine ihrer Art innewohnende Grundneigung, größer zu werden. In der Gegenwart entsprechen soziale Foren den offenen Massen. Sie erweitern ständig ihr Netzwerk, und ihr hauptsächliches Bestreben scheint darin zu bestehen, immer größer zu werden. Indem die offene Masse der Internetforen wächst, erlebt sich der Einzelne als Teil eines übergeordneten Ganzen. Bei Elias Canetti war dieses Phänomen der Auflösung noch im Wesentlichen körperlich zu verstehen.
Hans Magnus Enzensberger hält nichts vom Schwarmverhalten
Im sozialen Forum dagegen tritt an die Stell der Körper-zu-Körper-Erfahrung das Gefühl, in eine Gewebe eingegliedert zu sein, dessen Teil man wird, indem man liest, liket und postet. Was Schwärme und Massenbewegungen Anfang des Jahrtausends so interessant machte, war etwas, was man als „Faszination der großen Zahl“ bezeichnen könnte und was in engem Zusammenhang mit den wachsenden Erkenntnissen über das Zusammenspiel der gewaltigen Menge an Neuronen im menschlichen Gehirn stand.
Wurden Anfang des Jahrtausends Schwarmintelligenz und Massenverhalten in einen Maß gehypt, als hätte es jene Gräuel, die auf Massenpsychologie zurückgehen, nie gegeben, so steht gegenwärtig eine neue Skepsis im Raum. Für eine solche kritische Haltung steht heute der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger. Er hält wenig von der Schwarmintelligenz und noch weniger vom Schwarmverhalten. Verkehrsstaus und Nachahmungsbereitschaft auch bei niedrigen, ja erbärmlichen Verhaltensweisen sowie die Massenhetze von Agitatoren und Denunzianten im Internet zeigen doch, so der Schriftsteller, wie wenig Schwarmintelligenz uns hilfreich sei. Quelle: „Wir sind überall, nur nicht bei uns“ von Georg Milzner
Von Hans Klumbies