Traditionelle Tugenden sind nicht mehr zeitgemäß

Die vier alten Tugenden Tapferkeit, Klugheit, Gerechtigkeit und Mäßigung ragen aus der Antike in die Gegenwart. Die Dreiheit aus Glaube, Liebe, Hoffnung war lange die gültige christliche Ergänzung der griechisch-römischen Tugenden. Reimer Gronemeyer fügt hinzu: „Diese Klassiker wurden in der Industriegesellschaft noch durch Fleiß, Gehorsam, Sparsamkeit ergänzt.“ Die besagten Tugenden und Werte konnten in einem Milieu gedeihen, das gegenwärtig zerfällt: Familie, Nachbarschaft, Kommune, Vereine und Kirchen. Jenes Milieu bot den gesellschaftlichen Zusammenhang, es stellte sozusagen die Bausteine. Aber was bringt die Zukunft? Nur noch Menschen, die sich selbst vermessen und optimieren? Aus der Unternehmensberatung wird zum Beispiel von einem neuen „Werkzeug“ berichtet, das Personalentscheidungen auf eine sichere Basis stellen soll: Das Tool „Precire“ analysiert Sprachproben eines Menschen. Reimer Gronemeyer ist seit 1975 Professor für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen, wo er 2018 zum Ehrensenator ernannt wurde.

Der neue Megatrend ist der optimierte Mensch

Aus wenigen Sprachmustern kann dann abgeleitet werden, wie neugierig, risikofreudig, leistungsbereit oder emotional stabil jemand ist. Ein „Messgerät der Tugend“ als digitaler Personalberater, der erkennt, wer auf welchem Arbeitsplatz exzellente Leistungen erbringen wird. Beinahe alles, was ein Mensch tut, kann inzwischen digital vermessen werden. Das Privatleben wird digital durchdrungen und betriebswirtschaftlich skaliert – irgendwelcher traditioneller Werte, Tugenden gar, bedarf es nicht mehr.

In der neuen Welt dominieren die Biowissenschaften, das Systemmanagement und die computergestützten Algorithmen. Reimer Gronemeyer stellt fest: „Konkurrenz und Optimierung heißen die neuen Tugenden, die man eigentlich nicht mehr so nennen kann.“ Der neue Megatrend ist der verbesserte Mensch, der die alten Tugenden nicht mehr braucht. Alles, was Religion und Philosophie bisher gesagt haben, gehört scheinbar auf den Müllhaufen der Geschichte.

Geld und Gier dürfen nicht das letzte Wort haben

Auch wenn die traditionellen Tugenden und Werte nicht mehr durch Erziehung und Kultur wie selbstverständlich verankert sind, führen sie doch ein fast verstecktes Eigenleben in kulturellen Nischen, in denen sich die Imperative der Optimierung und betriebswirtschaftlichen Kolonisierung noch nicht durchgesetzt haben. Eine bedeutende Rolle spielt dabei die Freundschaft, denn sie wendet – wie Ivan Illich sagt – der Instrumentalität den Rücken zu und lebt aus der „Umsonstigkeit“.

Das heißt: aus der Freude an dem anderen. Aus dem Verzeihen. Aus dem Respekt vor dem anderen. Aus dem Geschenk. Und dann beginnen sie wieder zu leuchten wie die Kohlen im Feuer, die alten Tugenden: der Glaube, die Liebe, die Hoffnung. Der Glaube, zum Beispiel, dass der Mensch nicht als optimierbares System gedacht ist. Die Liebe, die sich nicht verrechnen lassen will. Die Hoffnung, dass Geld und Gier nicht das letzte Wort haben. Die neuen Tugenden, die dringender denn je gebraucht werden, wachsen auf dem Boden der freundschaftlichen Begegnung zwischen den Menschen. Und diese Tugenden sind so alt und so neu wie die Liebe und so uneingelöst wie die Sehnsucht der Menschen nach Wärme. Quelle: „Tugend“ von Reimer Gronemeyer

Von Hans Klumbies