Die beiden Deutungen der Zeit, als Maß des „Wann“ bezogen auf Ereignisse, wie Aristoteles meint, oder als Entität, die auch dann abläuft, wenn nichts geschieht, wie Isaac Newton will, lassen sich auch auf den Raum übertragen. Die Zeit ist das, worüber die Menschen reden, wenn sie nach dem „Wann“ fragen. Auf den Raum beziehen sie sich, wenn sie nach dem „Wo“ fragen. Carlo Rovelli erklärt: „Auf die Frage zu antworten, wo sich etwas befindet, heißt anzugeben, wovon dieses Etwas umgeben ist, welche anderen Dinge das Genannte umgeben.“ Aristoteles hat sich als Erster eingehend und gründlich mit der Frage befasst, was der „Raum“ oder ein „Ort“ sei, und eine präzise Definition geliefert: Der Ort einer Sache ist das, wovon sie umgeben ist. Carlo Rovelli ist seit dem Jahr 2000 Professor für Physik in Marseille.
Raum existiert auch im Nichts
Wie für die Zeit legt Isaac Newton eine andere Denkweise nahe. Den von Aristoteles definierten Raum bezeichnet er als „relativ, scheinbar und gewöhnlich“. „Absolut, wahr und mathematisch“, nennt er den Raum an sich, der auch da existiert, wo nichts ist. Der Unterschied zwischen Aristoteles und Isaac Newton ist für Carlo Rovelli offenkundig. Für Isaac Newton kann zwischen zwei Dingen auch „leerer Raum“ liegen. Für Aristoteles dagegen ist das ein Unding, da Raum doch nur die Art und Weise darstellt, wie die Dinge geordnet sind.
Sind keine ausgedehnten Dinge und ihre Berührungen vorhanden, gibt es laut Aristoteles keinen Raum. Dagegen stellt sich Isaac Newton vor, dass die Dinge in einem „Raum“ untergebracht sind. Dieser existiert als ein leerer auch dann noch, wenn man die Dinge aus ihm entfernt. Für Aristoteles ist „leerer Raum“ Unfug. Denn wenn sich zwei Dinge nicht berühren, liegt zwangsläufig etwas anderes zwischen ihnen. Und wenn etwas da ist, ist dieses Etwas eine Sache: dazwischen kann nicht „nichts“ liegen.
Die Luft ist etwas und nichts
Carlo Rovelli findet es bemerkenswert, dass beide Denkweisen zum Raum der menschlichen Alltagserfahrung entsprechen. Der Unterschied ergibt sich aus einer kuriosen Zufälligkeit, welche die Lebenswelt kennzeichnet und vor allem die Luft. Sie ist so dünn, dass wir ihre Anwesenheit kaum wahrnehmen. Von Luft reden die Menschen bald so, als sei sie etwas, bald so, als sei sie nichts. Sie ist da und wiederum nicht da. Wenn ein Mensch sagt: „Das Glas ist leer“, so meint er, dass es voller Luft ist.
Carlo Rovelli stellt fest: „Wir können uns die Welt um uns herum folglich als „fast leer“, oder, alternativ dazu, als „ganz voller Luft“ vorstellen.“ Im Grunde betreiben Aristoteles und Isaac Newton keine tiefschürfende Metaphysik. Sie setzen nur diese beiden unterschiedlichen intuitiven und naiven Betrachtungsweisen der Welt ein. Dabei ziehen sie die Luft mehr oder weniger in Betracht und überführen sie in eine Definition des Raumes. Was heute als unmittelbar einleuchtend erscheint, ist das Ergebnis der wissenschaftlichen und philosophischen Entwicklung der Vergangenheit. Quelle: „Die Ordnung der Zeit“ von Carlo Rovelli
Von Hans Klumbies