Die Erde schwebt im Raum

Anaximander von Milet, der im 6. Jahrhundert v. Chr. lebte, gilt als einer der Väter der Naturwissenschaften. Carlo Rovelli fasst einige der wichtigsten Ideen Anaximanders zusammen: „Meteorologische Phänomene haben natürliche Ursachen. Das Wasser des Regens ist das Wasser des Meeres und der Flüsse, das durch die Hitze der Sonnenstrahlen verdunstet ist; es wird vom Wind mitgenommen und fällt schließlich wieder zur Erde.“ Anaximander ging davon aus, dass die Erde ein Körper von endlicher Ausdehnung ist, der im Raum schwebt. Seiner Meinung nach lebten ursprünglich alle Tiere im Meer oder im Wasser, das die Erde in der Vergangenheit bedeckte. Die ersten Tiere waren daher Fische und fischähnliche Lebewesen. Als die Erde im Lauf der Zeit trockener wurde, eroberten sie das Festland und passten sich an das neue Milieu an. Carlo Rovelli ist seit dem Jahr 2000 Professor für Physik in Marseille.

Anaximander misst als Erster die Sonnenbahn

Zum Gesagten fügt Carlo Rovelli folgende Punkte hinzu: „Anaximander entwickelte die erste bekannte geographische Erdkarte. Zudem verfasste er den ersten Prosatext über Naturphänomene. Traditionell wird Anaximander die Einführung des „Gnomons“ in der griechischen Welt zugeschrieben. Beim Gnomon – „Schattenzeiger“ – handelt es sich im Prinzip um einen senkrecht in die Erde gesteckten Stab, mit dem man die Länge des Schattens misst, um die Höhe der Sonne über dem Horizont zu bestimmen.

Mit Hilfe dieses Geräts lässt sich bereits eine komplexe Astronomie der Sonnenbewegungen entwickeln. Manche Autoren berichten, Anaximander sei der Erste gewesen, der die Neigung der Ekliptik – der scheinbaren Sonnenbahn – gemessen habe. Die Idee ist auch für Carlo Rovelli plausibel, wenn man annimmt, dass er, was offenbar der Fall war, vom Gnomon systematisch Gebrauch machte. In welchem gedanklichen Rahmen sich seine Ideen bewegten, lässt sich allerdings nur schwer sagen.

Anaximander erforscht die Naturphänomene

Der Philosoph Gérard Naddaf vermutet, Anaximander habe vorgeschwebt, die Geschichte der natürlichen wie auch sozialen Ordnung der Dinge vom Ursprung bis in seine Tage aus einer rationalen und naturalistischen Sicht heraus zu rekonstruieren und zu erklärten. Gérard Naddaf merkt an, dies sei auch das Ziel kosmologischer Mythen. Anaximander folgte dieser Tradition, krempelte ihre Methodik jedoch von Grund auf um und entwickelte eine neuartige naturalistische Perspektive.

Aus welchen Motiven auch immer Anaximander seine Studien betrieb – klar ist, dass man nicht sagen kann, die Gesamtheit seiner Ideen und Ergebnisse bilde einen kompletten naturwissenschaftlichen Corpus im modernen naturwissenschaftlichen Sinn. Gewisse wesentliche Aspekte der heutigen Naturwissenschaften fehlen. Carlo Rovelli weist auf zwei besonders wichtige hin: „Die Suche nach mathematischen Gesetzen, die Naturphänomenen zugrunde liegen, fehlt völlig; […] Und obwohl Anaximander ein genauer Beobachter war, fehlt im die Idee des Experiments in dem Sinne, eine artifizielle Situation herzustellen, um spezielle Beobachtungen vorzunehmen und langfristige Messungen durchzuführen. Quelle: „Die Geburt der Wissenschaft“ von Carlo Rovelli

Von Hans Klumbies