Von einer „deutschen Revolution“ sprach der Oppositionsführer im britischen Unterhaus, der vormalige und spätere Premierminister Benjamin Disraeli, drei Wochen nach der Proklamation des Deutschen Reiches in Versailles. Andreas Rödder vertritt die gleiche Meinung: „In der Tat: Die Reichsgründung von 1871 revidierte die Ordnung des Wiener Kongresses, der das Prinzip des Gleichgewichts der europäischen Mächte um eine politisch schwache Mitte herum auf seinen historischen Höhepunkt geführt und mit der Gründung des Deutschen Bundes zugleich die deutsche Nationalstaatsbewegung zurückgedrängt hatte.“ Wie sich zeigte, ließ sich das Thema aber nicht auf Dauer unterdrücken. Nachdem die Nationalstaatsgründung von unten durch die Revolution von 1848/49 gescheitert war, kam sie 1871 von oben, unter preußischer Führung. Andreas Rödder zählt zu den profiliertesten deutschen Historikern und Intellektuellen. Seit 2005 ist er Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Otto von Bismarck wird preußischer Ministerpräsident
Das Scharnier zwischen Nationalstaatsbewegung und preußischer Machtstaatspolitik war Otto von Bismarck. Nach seiner Berufung zum preußischen Ministerpräsidenten im September 1862 steuerte er mit bemerkenswerter Konsequenz auf drei Kriege gegen Dänemark, Österreich und Frankreich zu, die innerhalb von weniger als acht Jahren und vier Monaten zu jener Gründung des deutschen Staates in der Mitte Europas führten, die zuvor so vehement vermieden worden war.
Mit der Reichsgründung war die Frage nach Territorium und Verfassung einstweilen beantwortet. Territorial realisierte sie die kleindeutsche Lösung, verzichtete also auf Gebiete der Habsburger Monarchie, deren Zugehörigkeit 1848/49 so lebhaft diskutiert worden war. Somit war es im strengen Sinne der Definition kein vollständiger Nationalstaat, weil Nation und Staat nicht deckungsgleich waren. Was die Verfassung betrifft, so hatte der preußische König 1849 die Krone aus den Händen eines gewählten Parlaments abgelehnt, das er nicht als Träger der Souveränität anerkannte.
Das Kaiserreich war nicht demokratisch
Das Kaiserreich von 1871 wurde stattdessen als Fürstenbund gegründet, es bezog seine Legitimation also nicht von unten, sondern von oben. Zudem besaß es mit dem allgemeinen Männerwahlrecht das formal demokratischste Wahlrecht in Europa. Andreas Rödder ergänzt: „Sein politisches System war aber kein parlamentarisches, weil das gewählte Parlament nicht über die Regierung bestimmte: Es konnte sie weder wählen oder stürzen. Das tat allein der Kaiser, und daher war das Kaiserreich trotz seines Wahlrechts nicht demokratisch.“
Es war aber auch kein absolutistisches oder diktatorisches System, da eine Verfassung die Machtaufteilung zwischen Kaiser und Parlament. Vielmehr entsprach es dem verfassungspolitischen Typus der monarchischen Konstitutionalismus, von dem es grundsätzlich zwei Varianten gab: eine mit Vorrang des Parlaments und eine mit Vorrang des Monarchen. Letzteres war im Kaiserreich der Fall, das sich so gesehen innerhalb des verfassungshistorischen Grundschemas im Europa des 19. Jahrhunderts und nicht auf einem Sonderweg bewegte. Quelle: „Wer hat Angst vor Deutschland?“ von Andreas Rödder
Von Hans Klumbies