Es gibt keinen Kampf der Kulturen

In den letzten Jahren ist viel über die religiösen Unterschiede diskutiert worden. Das bedeutet jedoch nicht, dass alle sonstigen Unterschiede bedeutungslos sind. Und erst recht können sie nicht als einzig relevantes Kriterium zur Einteilung der Menschheit gelten. Wenn man die Weltbevölkerung nach Religionen unterteilt, nutzt man stillschweigend das Trennende einer übergeordneten Klassifikation. Man will dadurch die Menschen unverrückbar in ein starres Schema pressen. Amartya Sen erklärt: „Die Schwierigkeiten mit der These vom Kampf der Kulturen beginnen lange, bevor wir zum Problem des unausweichlichen Kampfes kommen. Sie beginnen mit der Annahme, dass die Menschheit in erster Linie in ausgeprägte und klar voneinander abgrenzbare Kulturen unterteilt werden kann.“ Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.

Die Religion trennt die Kulturen

Die Beschränkungen eines solchen kulturbezogenen Denkens können sich als tückisch erweisen, und zwar für Programme eines „Dialogs zwischen den Kulturen“. Dies gilt ebenso für Theorien eines Kampfes der Kulturen. Es gibt ein edles und erhabenes Bemühen um Freundschaft zwischen den Menschen und den Kulturen. Es hat jahrhundertelang einen fruchtbaren und vielfältigen Boden für grenzüberschreitende Interaktionen geschaffen. Amartya Sen zählt dazu die Kunst, die Literatur, die Wissenschaft, die Mathematik, Spiele, Handel und Politik und andere Felder gemeinsamen menschlichen Interesses.

Gutgemeinte Bemühungen um globalen Frieden können sehr kontraproduktive Folgen haben. Nämlich dann, wenn sie sich auf ein grundlegend illusorisches Bild von der Welt der Menschen stützen. Es gibt jedoch die zunehmende Tendenz, sich bei der Einteilung der Weltbevölkerung auf die Religion zu beziehen. Das könnte zur Folge haben, dass der Westen auf den globalen Terrorismus und die damit verbundenen Konflikte ausgesprochen ungeschickt reagiert.

Der Westen will den Islam neu definieren

Man erweist anderen Menschen seinen Respekt, indem man ihre religiösen Bücher preist. Besser wäre es, die vielfältigen Tätigkeiten und Erfolge der unterschiedlichen Menschen in einer global vernetzten Welt zur Kenntnis zu nehmen. Nämlich in religiösen wie nichtreligiösen Bereichen. Die westliche Welt richtet, wenn sie dem entgegentritt, was man als „islamischen Terrorismus“ bezeichnet, ihre geistige Kraft im Grunde darauf aus, den Islam zu definieren oder neu zu definieren.

Amartya Sen stellt fest: „Doch die ausschließliche Konzentration auf den großen religiösen Unterschied bedeutet nicht nur, dass man andere Anliegen und Ideen, welche die Menschen bewegen, übersieht. Sondern dies hat obendrein zur Folge, dass die Äußerungen religiösen Autoritäten generell aufgebauscht werden.“ Man behandelt dann die islamischen Geistlichen so, als seien sie die offiziellen Sprecher der islamischen Welt. Dabei gibt es sehr viele Menschen, die zufällig muslimischer Religion sind, die mit dem, was der eine oder andere Mullah verkündet, überhaupt nicht einverstanden sind. Quelle: „Die Identitätsfalle“ von Amartya Sen

Von Hans Klumbies