Es gibt keinen Kampf der Kulturen

Der Kampf der Kulturen ist für Amartya Sen eine ausgesprochen globale These über Konflikte. Doch es gibt auch bescheidenere, aber ebenfalls einflussreiche Behauptungen. Auch nach diesen hängen die vielen Konflikte und Gräuel, die man heute in verschiedenen Teilen der Welt beobachtet, mit Gegensätzen von Kulturen und Identitäten zusammen. In den kleineren Varianten dieses Ansatzes sind es lokale Bevölkerungen, die in zerstrittene Gruppen mit unterschiedlicher Kultur und Geschichte zerfallen. Daraus erwächst quasi „naturwüchsig“ eine gegenseitige Feindschaft. Moderne Konflikte sind ohne Berücksichtigung aktueller Ereignisse und Machenschaften nicht zu verstehen. Auf diese Weise bläst man sie zu uralten Fehden auf, in denen die heutigen Akteure in angeblich altüberkommenen Dramen in vorherbestimmten Rollen auftreten. Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.

Die Kulturanalyse ist nicht tiefgründig

Die „kulturelle“ Betrachtung aktueller Konflikte stellt daher eine hohe geistige Barriere dar. Diese verhindert, dass man sich eingehender über die allgemeinen politischen Bedingungen informiert und die aktuellen Vorgänge der Aufwiegelung zur Gewalt in ihrer Dynamik untersucht. Amartya Sen stellt fest: „Dass der imposante Kultur-Ansatz solchen Anklang findet, ist leicht zu verstehen. Er beschwört die Fülle der Geschichte und die scheinbare Tiefgründigkeit und den Ernst der Kulturanalyse.“

Wenn Amartya Sen den Kultur-Ansatz in Zweifel zieht, dann nicht, weil er seine intellektuellen Versuchungen nicht sähe. Die Tiefe, um die sich die Kultur-Theoretiker bemühen, ist jedoch nicht der gehobenen intellektuellen Welt vorbehalten. In mancher Hinsicht spiegelt und verstärkt die Kultur-Theorie verbreitete Ansichten, die in nicht gerade intellektuellen Kreisen im Schwange sind. So ist beispielsweise die Beschwörung „westlicher“ Werte gegen das, was „die anderen“ glauben, in öffentlichen Diskussionen gang und gäbe.

Der Mensch ist kein singuläres Wesen

Sie macht regelmäßig Schlagzeilen in der Massenpresse, und sie taucht in der politischen Rhetorik ebenso auf wie in einwanderfeindlichen Reden. Häufig haben Theorien über den Kampf der Kulturen auch vermeintlich anspruchsvolle Grundlagen für anspruchslose und grobe landläufige Meinungen geliefert. Amartya Sen weiß: „Die kultivierte Theorie kann schlichte Intoleranz fördern.“ Woran hapert es nun bei der Erklärung des aktuellen Weltgeschehens durch die Berufung auf unterschiedliche Kulturen?

Ihre größte Schwäche besteht wohl darin, dass sie von der Illusion der Singularität in einer besonders ambitionierten Version Gebrauch macht. Hinzu kommt laut Amartya Sen ein weiteres Problem. Nämlich die Schlichtheit, mit der Weltkulturen beschrieben werden: „Sie erscheinen weit homogener und geschlossener, als sich aus empirischen Untersuchungen der Vergangenheit und der Gegenwart ergibt.“ Die Illusion der Singularität stützt sich auf die Annahme, ein Mensch sei nicht als Individuum mit vielen Zugehörigkeiten oder als Mitglied vieler verschiedener Gruppen zu betrachten. Quelle: „Die Identitätsfalle“ von Amartya Sen

Von Hans Klumbies