So unterscheiden sich Tragödie und Philosophie

Was in einer Tragödie geschieht, entfaltet sich in der Handlung. Dagegen entfaltet sich in Argumenten und Beweisführungen, was in der Philosophie geschieht. Ágnes Heller fügt hinzu: „Beide – Geschichten und Argumente – führen zu einem Ergebnis, zum Ausgang, beide sind teleologisch konstruiert.“ Aristoteles setzte voraus, dass fast alle guten Tragödiendichter das Endergebnis ihrer Geschichte kennen, bevor sie zu schreiben beginnen. Er missbilligte Tragödienreihen. Wo etwas endet, da sollte es auch enden, es gibt nichts anderes mehr zu beginnen. Ágnes Heller, Jahrgang 1929, war Schülerin von Georg Lukács. Ab 1977 lehrte sie als Professorin für Soziologie in Melbourne. 1986 wurde sie Nachfolgerin von Hannah Arendt auf deren Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research in New York. Ágnes Heller starb am 19. Juli 2019 in Ungarn.

Tragödien sind geschlossene Welten

Deshalb müssen die meisten Tragödien mit dem Tod enden. Nicht weil der Tod an sich tragisch ist, sondern weil er endgültig ist. Tragödien sind geschlossene Welten. Das gilt auch für traditionelle, sprich metaphysische Philosophien. Der Philosoph kennt das Ergebnis seiner Argumente oder seiner Darlegung von Anfang an. Er weiß, was das höchst Gut oder die höchste Wahrheit ist, bevor er mit der Deduktion (Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere) beginnt und zu ihrem Abschluss kommt.

Aristoteles hat für die Tragödie drei Einheiten vorgeschlagen, nämlich Zeit, Handlung und Ort. Diese treffen auf die Philosophie nicht zu. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass die Einheit von Ort und Zeit auch für die Tragödie nicht gilt. Die Einheit der Handlung gilt jedoch für beide. Die Welt, welche die Philosophen zeigen, sollte kohärent sein, frei von inneren Widersprüchen, endlich. Wahr ist allerdings, dass ihnen dies in den Augen des jeweils nächsten Philosophen niemals gelingt.

Philosophie und Tragödie sind literarische Gattungen

Die Einheit von Zeit und vielleicht auch von Ort ist nach Aristoteles in einer Tragödie, wie im Drama allgemein, aus Gründen der Transparenz erforderlich. Damit können die Zuschauer die Handlung als Ganzes in Erinnerung behalten. Man kann die eine oder andere Episode von Homer zitieren, ohne auf das Ganze Bezug zu nehmen. Ágnes Heller erläutert: „Doch in der Tragödie gibt es keine vom Ganzen unabhängige Episoden.“ In der Philosophie muss man die Prinzipien und die Wahrheit gleichzeitig im Auge haben, um sie zu verstehen.

Sowohl Philosoph als auch Tragödie sind für Ágnes Heller literarische Gattungen. Beide arbeiten mit Figuren. Die Figuren in der Philosophie werden Kategorien genannt. Die Philosophen schaffen ihre eigenen Geschichten, indem sie diese Figuren als Marionetten in ihrem Welttheater bewegen. In der Philosophie gibt es feste Figuren wie Substanz, Wahrheit, Vernunft, Meinung, Seele, Prinzip und Ähnliches. Die Philosophen spielen mit diesen Figuren auf der Weltbühne. Quelle: „Vom Ende der Geschichte“ von Ágnes Heller

Von Hans Klumbies