Yuval Noah Harari erklärt das indische Kastenwesen

Alle Gesellschaften basieren auf erfundenen Hierarchien, wobei diese recht unterschiedlich aussehen können. Die indische Gesellschaft teilte zum Beispiel die Bevölkerung nach Kasten ein, die ottomanische unterschied sie nach Religionen und die amerikanische nach der Hautfarbe. Yuval Noah Harari begründet dies wie folgt: „In den meisten Fällen war der Grund eine willkürliche historische Verwerfung, die im Lauf der Generationen zu einem Graben wurde, weil bestimmte Gruppen ein Interesse daran hatten.“ Das indische Kastensystem wurde erfunden, als vor rund 3.000 Jahren arische Stämme nach Nordindien vordrangen und die einheimische Bevölkerung unterjochten. Die Eroberer errichteten eine hierarchische Gesellschaftsordnung, in der sie als Priester und Krieger die obersten Ränge einnahmen, während die Einheimischen als Diener und Sklaven schuften mussten. Yuval Noah Harari ist Professor für Geschichte an der Hebrew University of Jerusalem.

Eine Vermischung der Kasten war durch strenge Regeln und Normen verboten

Die Neuankömmlinge erfanden das Kastenwesen, da sie zahlenmäßig unterlegen waren und fürchteten, ihre Macht und Identität zu verlieren. Yuval Noah Harari erklärt: „Sie teilten alle Menschen in verschiedene Gruppen mit eigenen Berufen, Gesetzen, Privilegien und Pflichten ein. Eine Vermischung der Kasten wurde durch strenge Regeln und Normen verboten, die Angehörigen der verschiedenen Kasten mussten getrennt leben, essen und feiern. Vor allem durften sie nicht untereinander heiraten.“

Die Herrschenden machten ihren Untertanen weiß, dass das Kastensystem, das vor allem über religiöse Tabus funktionierte, nicht etwa ein Zufallsprodukt der Geschichte sei, sondern ewige komische Wahrheiten widerspiegle. Im Hinduismus spielten die Kategorien „Reinheit“ und „Unreinheit“ eine wesentliche Rolle und mussten nun als Fundament der Gesellschaftspyramide herhalten. Fromme Hindus lernten zum Beispiel, dass die Vermischung der Kasten nicht nur sie verunreinige, sondern die gesamte Gesellschaft.

Heute gibt es in Indien mehr als 3.000 Kasten

Das ist laut Yuval Noah Harari keine typisch hinduistische Vorstellung. Er weist darauf hin, dass sich die Vorstellung von Reinheit und Unreinheit zu allen Zeiten und in fast allen Gesellschaften als das wirkungsvollste Instrument zur Durchsetzung gesellschaftlicher und politischer Schranken erwies. Yuval Noah Harari erläutert: „Die Furcht vor der „Unreinheit“ ist in unseren biologischen Überlebensinstinkten verwurzelt und schützt uns vor potentiellen Krankheitsherden.“ Wer eine Gruppe vom Rest der Gesellschaft isolieren möchte, seien es Homosexuelle oder Juden, erzielt die größte Wirkung, wenn er alle anderen überzeugt, dass diese Gruppe „unrein“ ist.

Das Kastensystem und seine Reinheitsgebote sind tief in der indischen Kultur verwurzelt. Das System erwies sich allerdings keineswegs als total starr. Denn im Laufe der Zeit spalteten sich große Kasten in immer neue Unterkasten auf. Yuval Noah Harari nennt Zahlen: „Aus den ursprünglichen vier wurden schließlich mehr als 3.000 Kasten namens jati (wörtlich „Geburt“). Diese Vermehrung der Kasten ändert jedoch nichts am Grundprinzip, nach dem ein jeder Mensch in eine bestimmte Position geboren wird und jeder Verstoß gegen die Gesetze den Einzelnen und die Gesellschaft verunreinigt.

Von Hans Klumbies