Yuval Noah Harari erforscht die Hierachie der Geschlechter

Im Laufe der Menschheitsgeschichte haben Gesellschaften die unterschiedlichsten Hierarchien erfunden. Die Rasse spielte in den Vereinigten Staaten von Amerika eine bedeutende Rolle, die für die Muslime des Mittalters so gut wie keine Bedeutung hatte. Die Kaste war im Indien des Mittelalters eine Angelegenheit von Leben und Tod, während sie in Europa nahezu unbekannt ist. Dennoch gibt es eine Gemeinsamkeit. Yuval Noah Harari erläutert: „Eine Hierarchie hat dagegen in allen bekannten Gesellschaften eine zentrale Rolle gespielt: die Hierarchie der Geschlechter. In jeder Gesellschaft gibt es Männer und Frauen, und in jeder, aber auch in jeder Gesellschaft werden Männer gegenüber Frauen bevorzugt.“ In vielen Gesellschaften gehörten Frauen einfach zum Besitz der Männer, sei es ihrer Väter, Brüder oder Gatten.  Yuval Noah Harari ist Professor für Geschichte an der Hebrew University of Jerusalem.

Vergewaltigung galt in frühen Gesellschaften nicht als Vergehen

Viele Rechtssysteme betrachteten die Vergewaltigung einer Frau nur als Eigentumsdelikt. Als Opfer wurde nicht etwa die vergewaltigte Frau, sondern ihr männlicher Besitzer angesehen. Yuval Noah Harari erklärt: „Eine Strafe für die Vergewaltigung einer unverheirateten Frau konnte beispielsweise darin bestehen, dass der Täter die Mitgift entrichtete und die Frau damit kaufte.“ Die Vergewaltigung einer Frau, die keinem Mann gehörte, galt ein vielen früheren Gesellschaften nicht als Vergehen. Wenn der Ehemann seine Frau vergewaltigte, galt das ebenfalls nicht als Verbrechen.

Ganz im Gegenteil: in der Regel galt in diesen Gesellschaften die Vorstellung, dass ein Mann seine Frau vergewaltigen könne, als Widerspruch in sich, da er als Ehemann schließlich die volle Herrschaft über die Sexualität seiner Frau besaß. Diese Überzeugung war keineswegs auf die Gesellschaften des Nahen Ostens zur Zeit der Bibel beschränkt. Yuval Noah Harari erläutert: „Im Jahr 2006 gab es noch immer 53 Länder, in denen ein Mann nicht für die Vergewaltigung seiner Frau belangt werden konnte.“ In Deutschland ist der Tatbestand der Vergewaltigung in der Ehe erst seit 1997 anerkannt.

Die Biologie erlaubt und die Kultur verbietet

Yuval Noah Harari stellt sich die Frage, ob es biologische Gründe für die Privilegien gibt, die Männer gegenüber Frauen genießen. Dabei hat er herausgefunden, dass fast alle Eigenschaften, die Gesellschaften Männern und Frauen als angeblich natürlich zuschreiben, in Wirklichkeit meist jeder biologischen Grundlage entbehren. Yuval Noah Harari weist auf eine Faustregel hin, die da lautet: „Die Biologie erlaubt, die Kultur verbietet.“ Die Biologie lässt eine große Bandbreite von Möglichkeiten zu, die Kultur zwingt ihre Angehörigen dagegen, sich für ein kleines Spektrum dieser Chancen zu entscheiden.

Yuval Noah Harari weist darauf hin, dass die Kultur gerne behauptet, unnatürliche Dinge zu verbieten. Aber aus der Sicht der Biologie ist nichts unnatürlich. Yuval Noah Harari betont: „Alles was möglich ist, ist definitionsgemäß auch natürlich. Eine unnatürliche Verhaltensweise, die den Gesetzen der Natur widerspricht, kann es gar nicht geben, weshalb es völlig sinnlos ist, sie verbieten zu wollen.“ In Wirklichkeit stammen die Vorstellungen der Menschen von „natürlich“ und „unnatürlich“ nämlich nicht aus der Biologie, sondern aus der christlichen Theologie.

Von Hans Klumbies