Die Wutwähler aller Länder fühlen sich von Einwanderern bedroht im Kampf um die verbliebene Arbeit, ganz im Gegensatz zu den gut ausgebildeten Eliten. Die weiße amerikanische Unterschicht sieht sich von hispanischen Einwanderern bedroht, während die gut Ausgebildeten Zuwanderung oft begrüßen, weil sie dem Wachstum nützt, der Demografie oder dem kulturellen Reichtum einer Gesellschaft. Das Gefühl, von der Politik vergessen worden zu sein, dominiert bei den Wutwählern aller Länder – unabhängig davon, welche Regierung gerade am Ruder ist. David Brooks, Kolumnist bei der New York Times, schreibt: „Wenn Menschen den Eindruck haben, dass ihre Welt verschwindet, werden sie zu einer leichten Beute für faktenfreies magisches Denken und Demagogen, die Einwanderer beschuldigen. Die Eliten haben zu viel gewollt, und nun geht die Geschichte in die entgegengesetzte Richtung.“
Die Globalisierung hat viele Menschen entwurzelt zurückgelassen
David Brooks fährt fort: „Die weniger gebildeten Massen haben eine andere Vorstellung von der Zukunft, eine Vision, die geschlossener ist, kollektiver, beschützter und segmentierter.“ Sogar der amerikanische Kolumnist Thomas Friedman, eigentlich ein Verfechter der Globalisierung, kommt zu ähnlichen Schlüssen: „Sie Menschen ängstigen sich zutiefst vor etwas. Wir haben den Handel und die Industrie globalisiert, Roboter und künstliche Intelligenz eingeführt. Aber dadurch sind viele Menschen schwindelig und entwurzelt zurückgelassen worden.“
Und weil die Politik darauf keine Antwort gefunden hat, gerade für die Sorgen der weniger gut Ausgebildeten, reagieren viele Menschen mit Verachtung der Eliten und Radikalisierung. Es ist die große Chance für Bewegungen, die früher nie auch nur in die Nähe der Macht gekommen wären, über Wahlen und Referenden die Politik zu beeinflussen. Viele Franzosen sind beispielsweise wütend, denn der Vertrauensverlust zwischen Bürgern und Regierenden war in Frankreich nie größer als heute.
Die Angst vor dem Untergang betrifft auch die Mittelschicht
Die Abgehängten haben das größte Wutpotential – und damit auch das größte Wählerpotential für die französischen Populisten, von denen Marine Le Pen nur die bekannteste ist. Sie hat es geschafft, die Kernthemen der französischen Linken zu besetzen. Marine Le Pen hat dem Front National ein antiliberales Wirtschaftsprogramm verpasst, für mehr Protektionismus, gegen Freihandel. Sie beschimpft die Eliten, sie will Zuwanderer stoppen und Vorrang für Franzosen auf dem Arbeitsmarkt. Die Partei hat sich unter ihrer charismatischen Führung als dritte politische Kraft in Frankreich etabliert.
Der französische Soziologe Michel Wieviorka erklärt: „Die Angst vor dem Untergang, zumindest aber vor dem schleichenden Abstieg, betrifft auch die Mittelschicht. Wir wissen, dass unsere Kinder kein besseres Leben als wir führen werden.“ Im Gegenteil: Oft unterstützen Eltern ihre Kinder, die bereits erwachsen sind, weiter. Bezuschussen ihr mageres Gehalt, finanzieren ihnen die Wohnung. Zur Wirtschaftskrise kommt in Frankreich, wie in vielen europäischen Ländern, eine Art Identitätskrise. Die Gesellschaft ist tief gespalten und lässt sich auch durch die republikanische Idee, einst Klebstoff der Nation, nicht mehr versöhnen. Quelle: Der Spiegel
Von Hans Klumbies