Der Begriff der Krise ist für Wolfgang Merkel nicht nur umstritten, sondern auch diffus. Er wird überall inflationär verwendet, aber in den seltensten Fällen definiert. Zudem stellt kaum jemand die Frage, wo eine Krise ihren Anfang hat und wo sie endet. Wolfgang Merkel unterscheidet vereinfacht in den Krisentheorien zwei Verwendungen des Begriffs. Da gibt es zum einen die akute Krise, die die Existenz bedroht und entschiedenes Handeln erfordert. In einer Demokratie wird eine solche Krise als Vorbote eines Kollapses angesehen. Es geht um Demokratie oder Diktatur. Zum anderen gibt es die latente Krise, die für die entwickelten Demokratien der alten OECD-Welt meist ins Feld geführt wird. Professor Dr. Wolfgang Merkel ist Direktor der Abteilung „Demokratie“ am Wissenschaftszentrum Berlin und lehrt Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin.
Die Kernfunktionen der Demokratie werden ausgehöhlt
Latent heißt für Wolfgang Merkel zum einen, dass die Krise sich hinzieht und ein Ende nicht in Sicht ist. Außerdem verbirgt sich darin die Vermutung, dass eine solche Krise zu einem Verfall der Qualität einer Demokratie führt und dass deren normative Substanz von innen ausgehöhlt wird, wobei nur noch Schwundstufen übrig bleiben. Auch wer das Goldene Zeitalter der Demokratien für einen Mythos hält, wird laut Wolfgang Merkel nicht umhinkommen, massive Gefährdungen der Demokratie zu diagnostizieren.
Wolfgang Merkel erläutert: „Zum Kanon der Krisendiagnosen gehört seit drei Jahrzehnten, dass Kernfunktionen der Demokratie wie Partizipation, Repräsentation und Inklusion in den entwickelten Demokratien ausgehöhlt werden.“ Die Partizipation geht zurück, die Repräsentation bricht, die Inklusion versagt. Die Demokratie verliert dabei ihren partizipativen Kern und verkommt zur elitären Zuschauerdemokratie. In Deutschland, in West- und noch stärker in Osteuropa geht die Wahlbeteiligung teilweise dramatisch zurück.
Parteien und Parlamente finden immer weniger Zustimmung bei den Bürgern
Das Problem ist für Wolfgang Merkel jedoch nicht die Wahlbeteiligung an sich, sondern die mit ihr einhergehende soziale Selektivität. Er erläutert: „Denn als empirisch gesicherte Faustregel kann gelten, dass mit der sinkenden Wahlbeteiligung die soziale Exklusion steigt. Die unteren Schichten verschwinden, die Mittelschichten bleiben.“ Für die Demokratie engagieren sich vor allem junge, gut ausgebildete Menschen. Einwanderer und die bildungsfernen unteren Schichten sind kaum vertreten.
Ein weiterer beunruhigender Befund ist laut Wolfgang Merkel die zunehmend niedrige Zustimmung der Bürger zu Parteien und Parlamenten. Je weiter öffentlichen Institutionen vom Kerngeschäft der Politik entfernt sind, desto besser sind ihre Umfragewerte. In Deutschland heißt dieses Phänomen „Politikverdrossenheit“. Zudem droht eine Verschiebung der Legitimitätsachse von der demokratischen Mehrheitsentscheidung hin zu Beschlüssen durch Experten, die nicht vom Volk gewählt worden sind.
Von Hans Klumbies