Obwohl die drei Bedingungen und die fünf Bestandteile aller Tragödien die gleichen sind wie früher in Athen, unterscheiden sich die Tragödien von William Shakespeare in vielen wichtigen Punkten von den alten. Ágnes Heller erklärt: „Shakespeares Publikum war dieser Unterschied egal, es war meist nicht mit den antiken Tragödien vertraut. Die Kunstexperten, die Theoretiker und das kultivierte Publikum jedoch konnten sich nur schwer mit diesen „barbarischen“ Werken versöhnen.“ William Shakespeares Werke wurden zensiert, gekürzt, beschnitten, einige Ausdrücke und Szenen wurden ganz wegelassen oder „gentrifiziert“, das Ende wurde verändert. Ab 1977 lehrte Ágnes Heller als Professorin für Soziologie in Melbourne. 1986 wurde sie Nachfolgerin von Hannah Arendt auf deren Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research in New York.
Die Autorenschaft Shakespeares wurde sich immer infrage gestellt
Ganz allgemein wurden literarische Texte wie Dramen und Romane damals nicht als heilig unantastbar angesehen wie seit dem 20. Jahrhundert. Ágnes Heller vermutet: „Es scheint, als hätte die Philosophie das Jahrhundert der Aufklärung erreichen müssen, um Shakespeares Genie zu verstehen. Die Anerkennung wurde auch durch das klassische französische Theater von Corneille und Racine verzögert.“ Denn die französischen Tragiker hielten sich an den Konventionen der Antike – obwohl sie ebenfalls modere Autoren waren.
Es war Gotthold Ephraim Lessing, der William Shakespeare als den wahren und einzigen authentischen Nachfolger der antiken griechischen Tragikdichtung bezeichnete und ihn damit weit über den französischen Klassizismus stellte. Ágnes Heller stellt fest: „Es war und ist glaube ich immer noch Mode, die Autorenschaft Shakespeares infrage zu stellen. Wie konnte eine Person, die wenig Latein und noch weniger Griechisch konnte, die kein kultivierter Adeliger war und über die wir so wenig wissen, diese Stücke schreiben?“
Für Shakespeare war weder das Alte noch das Neue unproblematisch
Es gab Zeiten, in denen selbst gebildete Menschen glaubten, dass Lord Bacon die Stücke geschrieben hat, die unter dem Namen Shakespeare versteckt waren. Das ist natürlich Unsinn. Ágnes Heller weiß: „Doch dass Francis Bacon etwas mit Shakespeares Weltbild gemein hatte, steht außer Zweifel. Er war der erste Philosoph, der in seiner Philosophie die moderne Welt begrüßte.“ Er stellte das Neue dem Alten gegenüber und entschied sich für die Seite des Neuen.
Das zeigen auch die Titel seiner wichtigsten Werke wie „Novum Organum Scientiarum“, „New Atlantis“ oder „Instauratio Magna“. Doch die Art und Weise, wie William Shakespeare und Francis Bacon die Welt sahen, zeit nur wenig Ähnlichkeit. Ágnes Heller erläutert: „Für Bacon war das Neue völlig unproblematisch, in allem besser als das Alte, während für Shakespeare, den tragischen Dichter, weder das Alte noch das Neue unproblematisch waren.“ Selbst wenn er sich auf die Seite des Neuen stellt, dann dies selten so bedingungslos und so frei von moralischen Widersprüchen wie in Romeo und Julia oder in manchen Komödien. Quelle: „Vom Ende der Geschichte“ von Ágnes Heller
Von Hans Klumbies