Die meisten Menschen wollen auch weiterhin viele ihrer Beziehungen nicht auf die gemessenen Koordinaten ihrer Empfindungen stützen. Wilhelm Schmid betont: „Keine Digitalisierung hebt den Wert analoger Erfahrungen auf. Seelische Heimat ist die Geborgenheit in der vertrauten Konstellation einer fühlbaren Landschaft. Heimatgefühle finden sich vor allem dort, wo Wärme erfahrbar ist.“ Kälte dagegen befremdet. In den 1920er Jahren erweisen sich die Ansprüche moderner Individuen auf Autonomie als eisenhart, wenn sie in der Realität aufeinandertreffen. Je häufiger Beziehungen daran zerbrechen, desto größer werden die Hoffnungen auf eine Seelenheimat, die bei Anderen zu finden wäre. Wenn man aber eine solche Heimat erhofft, dann wäre es eine gute Idee, erst einmal selbst die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Wilhelm Schmid lebt als freier Philosoph in Berlin.
Die Beziehungsheimat ist die bevorzugte Kernheimat
Man sollte also mit der Heimatpflege bei sich selbst beginnen, um sie dann Anderen zugutekommen zu lassen. Wer sich mit Selbstsorge, Selfcare, um Freundschaft mit sich bemüht, ist bei sich zuhause, auch wenn er sich am falschen Platz fühlt. Das Selbst, das seine Kräfte nicht im ständigen Hadern mit sich verausgabt, vermag sich aus seiner Selbstheimat heraus anderen zuzuwenden. Und es kann so eine gemeinsame Heimat begründen, in der man Gefühle und Gedanken teilt. Dort fühlt sich jeder im Zusammensein gut aufgehoben.
Wilhelm Schmid erläutert: „Von diesem Basislager aus ist die Welt am besten zu erkunden. Die Beziehungsheimat ist für die meisten Menschen mehr noch als die räumliche Heimat die bevorzugte Kernheimat.“ Verlässliche Beziehungen, die ihrem Design nach auf emotionale Tiefe und epische Länge angelegt sind, wirken als soziales Immunsystem. Mit diesem lässt sich auch ein Blitzschlag unglücklicher Erfahrungen auffangen. Diese Beziehungen können gelegentlich auch die zu sich selbst ersetzen, wenn es nottut, etwa in einer Lebenskrise.
Das Geflecht von Beziehungen ist die vertraute Welt
Eine solche soziale Heimat ergibt sich in erster Linie aus der Herkunft. Eltern, Großeltern, Geschwister in jeglicher Variation können dauerhaft Heimat füreinander sein. Im Laufe des Lebens kommen Beziehungen der Wahl hinzu, die für eine Weile oder für eine lange Zeit eine Wahlheimat im anderen Sinne begründen. Selbst Menschen mit befremdlichen Meinungen können Teil der sozialen Heimat sein. Auch in diesem Sinne geht Heimat sehr wohl mit Fremdheit zusammen.
Das Geflecht von Beziehungen der Herkunft und der Wahl, in dem ein Mensch lebt, kann komplex und kompliziert sein, aber es ist seine vertraute Welt. Wilhelm Schmid stellt fest: „Konnektivität ist hier nicht digital gemeint, sondern in realen Begegnungen zu erleben. Wenn das Wir-Gefühl, das dabei entsteht, auf Integrität beruht, hat es keine Ausschlüsse nötig, die mit der Abweichung von einer Identität zu begründen wären.“ Es kann Konventionen folgen, die sich von selbst verstehen und nicht immer sklavisch befolgt werden müssen. Quelle: „Heimat finden“ von Wilhelm Schmid
Von Hans Klumbies