Beobachtungen sind immer Interpretationen

Im „Versuch über den menschlichen Verstand“ schreibt der englische Philosoph John Locke, der von 1632 bis 1704 lebte, folgendes: „Niemand kann im Ernst so skeptisch sein, dass er über die Existenz der Dinge, die er sieht und fühlt, ungewiss wäre.“ John Locke war der erste große Vertreter des empirischen Denkens. Er vertritt die These, dass sich etwas Reales aus unterschiedenen und mit hin unterscheidbaren Elementen zusammengesetzt ist. Diese Annahme wird später von Ludwig Wittgenstein zum Begriff der Tatsache verallgemeinert. Seiner Meinung nach ist die Tatsache das Bestehen von Sachverhalten und der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen wie Sachen oder Dingen. Ludwig Wittgenstein schreibt: „Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge.“ Mit dem Begriff der Tatsache ist der Ausgangspunkt einer Tätigkeit gesetzt, die seit Aristoteles Induktion heißt, ein Denkweg vom Einzelnen zum Allgemeinen, aus dem Geschehen in eine Distanz hinein.

Ein aktiver Verstand verarbeitet die Wahrnehmungen

Bei John Locke setzt die Erkenntnis an der sinnlichen Wahrnehmung der Dinge an, bildet aus ihrer Erfahrung einfache Ideen, differenziert und vergleicht und erkennt schließlich die Übereinstimmung der Ideen. Wilhelm Berger erklärt: „Erkenntnis wird zu einer Tätigkeit, in der ein aktiver Verstand die Wahrnehmungen verarbeitet. Dieser ist ein Vermögen der schrittweisen Unterscheidung und Verbindung von Eindrücken.“ Professor Wilhelm Berger lehrt am Institut für Technik- und Wissenschaftsforschung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

Das allgemeinere Modell der induktiven Tätigkeit sieht nun so aus: Etwas geschieht, man interpretiert es möglichst präzise, man vergleicht es mit anderen Geschehnissen und deren Interpretationen, erkennt Unterschiede und Parallelen und bildet aus diesen Vergleichen allgemeinere Begriffe. Die induktive Tätigkeit ist jedoch mit zwei gravierenden Problemen konfrontiert. Erstens: Nur ein naiver Empirismus kann Tatsachen und Sachverhalte als so gegebene denken, dass sie nur mehr gesammelt, beobachtet, protokolliert, geordnet und interpretiert werden müssen.

Eine Verallgemeinerung muss immer hypothetisch bleiben

Tatsachen und Sachverhalte, die zu einem Ausgangspunkt genommen werden, erscheinen immer als konstruierte. Deshalb behauptet der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper: „Beobachtungen und erst recht Sätze über Beobachtungen und Versuchsergebnisse sind immer Interpretationen der beobachteten Tatsachen und Interpretationen im Lichte von Theorien.“ So wird die induktive Tätigkeit immer wieder neu auf die Ebene des Geschehens zurückkehren und von neuem abheben, um sich zu präzisieren.

Das zweite Problem liegt für Wilhelm Berger im Vorgang der Verallgemeinerung selber. Es wird bei ihm von einer Tatsache, von einem Sachverhalt oder von einer endlichen Zahl von Fällen tendenziell auf alle, viele oder unendlich viele Tatsachen und Sachverhalte geschlossen. Dass dieser Schluss allerdings immer hypothetisch bleiben muss, ist eine der wichtigen Einsichten moderner Wissenschaftstheorie. Eine andere Voraussetzung ist, dass es ein zeitliches Kontinuum zwischen einem heutigen und einem morgigen Sachverhalt geben muss, der ihm entspricht oder aus ihm folgt. Quelle: „Was ist Philosophieren“ von Wilhelm Berger

Von Hans Klumbies