Der Form nach sind alle Vorurteile falsch

Dass die Aufklärung Vorurteile zu entdecken und zu zerstören sucht, ist philosophie- und sozialhistorisch nicht zu bestreiten. Das Vorurteil ist sogar eine ihrer zentralen Kampfideen. Vorurteile werden in materialen Definitionen als falsche Urteile, Meinungen, Stellungnahmen, Thesen, geistige Einstellungen oder Annahmen verstanden. Im deutschen Sprachraum we3rden solche Definitionen, die Vorurteile als Irrtum, als falsches, unwahres Urteil ansehen, in philosophischen Logiken breit tradiert. René Descartes (1596 – 1650) band den Begriff des Vorurteils an die Dauerhaftigkeit von Meinungen, die durch einmal gefällte Urteile glaubhaft bleiben. Diese Urteile und die auf ihnen basierenden Ansichten müssen nicht falsch sein. In der deutschsprachigen Aufklärung entwickelt erstmals Georg Friedrich Meier (1718 – 1777) systematisch einen formalen Vorurteilsbegriff. Vorurteile sind bei Meier vorgefasste Meinungen, ungeprüfte Einstellungen, die nicht unbedingt auch inhaltlich falsch sind.

Immanuel Kant unterscheidet Vorurteile und vorläufige Urteile

Als Vorurteile bezeichnet Georg Friedrich Meier alle diejenigen Urteile, die man aus Übereilung für wahr hält; oder, denen man seinen Beifall gibt, ohne vorher die rechten Gründe ihrer Wahrheit erwogen zu haben. Der Form nach sind also alle Vorurteile falsch, inhaltlich können sie wahr sein. Obwohl Immanuel Kant (1724 – 1804) geschlossene Theorie über Vorurteile entwickelt, wirkt er auch hier auf viele Nachfolger. Er unterscheidet Vorurteile und vorläufige Urteile. Vorurteile sind bei Immanuel Kant im Unterschied zu vorläufigen Urteilen nicht mit dem Vorsatz zu weiterer Untersuchung verknüpft.

Vorurteile werden fälschlicherweise generalisierend für endgültige Urteile gehalten, obwohl sie doch nur eine Etappe im Prozess der Erkenntnis sein könnten. In Frankreich stehen weniger die Definition, sondern die Suche nach den Ursachen der Vorurteile und deren Typologie im Mittelpunkt als ein kritischer Impuls, der die weit reichende Zerstörung der Vorurteile als Ziel der Philosophen versteht. Mit dem Anspruch auf Destruktion der Vorurteile geht in Frankreich eine autoritätskritische Wendung einher, die im deutschen Sprachraum in dieser Form sehr selten zur Geltung kommt.

Kinder nehmen Vorurteile von den Eltern und Lehrern auf

Schon René Descartes und Thomasius vertreten die These, die Herrschaft der Affekte bei Kindern mache die Kritik der Vorurteile schwierig. Es sein sinnvoll und notwendig, dass Kinder, die den Verstand noch nicht gebrauchen können, Vorurteile, insbesondere in Form der Meinungen ihrer Eltern und Lehrer aufnähmen. Dieses Argument wird zum Topos des Diskurses über die Vorurteile in der Epoche der Aufklärung. Vorurteile können im Gefolge dieser Überlegungen als der Ratio widersprechende und doch notwendige Affekt behandelt werden.

Viele für den Diskurs über Vorurteile wirksame anthropologische Argumente stammen aus dem französischen Materialismus und Sensualismus. Doch wurden sie in Deutschland meist als religionsfeindlich empfunden. Auch die Naturzustandslehre von Jean-Jaques Rousseau (1712 – 1778), die Naturforschung von Carl Linné (1707 – 1778) sowie medizinische Entdeckungen beeinflussen die Debatte über die Vorurteile. Der englisch-schottische Empirismus im Gefolge von John Locke (1632 – 1704) und David Hume (1711 – 1776) gewinnt ab den 1770er Jahren verstärkte Bedeutung in Deutschland. Quelle: „Handbuch Europäischer Aufklärung“ von Heinz Thoma (Hrsg.)

Von Hans Klumbies