Friedrich Nietzsches Zweifel an der Zuträglichkeit der Vernunft war nie stark genug, um ihn selbst auf deren Gebrauch verzichten zu lassen. In der Logik seiner Argumente und im Scharfsinn seiner Kritik tritt dies für Volker Gerhardt eindrucksvoll hervor. Gewiss, die Vernunft ist nicht die Instanz der Wahrheit, wohl aber das Organ, um Wahrheitsansprüche zu erheben und zu prüfen. Die Vernunft bedarf des Körpers, um sich zu sammeln, sich auszudrücken und sich bestimmen zu können. Die Vernunft des Leibes erscheint Friedrich Nietzsche so vollkommen, dass er von der „großen Vernunft“ des Leibes spricht. Diese grenzt er von der deutlich abgewerteten „kleinen Vernunft“ des Bewusstseins ab. Volker Gerhardt war bis zu seiner Emeritierung 2014 Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin.
Die Vernunft hängt aufs Engste mit dem Körper zusammen
Friedrich Nietzsche bewegt sich mit seinen Gedanken an der Nahtstelle zwischen Geist und Körper. Die „große Vernunft“ des Leibes vollzieht den Übergang zwischen den wahrgenommenen Dingen und den Gefühlen. Sie stellt damit zugleich die Verbindung zu den Begriffen her. Der Übergang stellt sich vermutlich über Zeichen her. Diese sind durch ihre sinnliche Gestalt und ihren bedeutungsvollen Gehalt mit beiden Seiten, also Körper und Bewusstsein, verbunden.
Die Vernunft als Organ des Leibes kann gleichwohl zu ihm auf Distanz gehen. Allerdings ohne ihre Herkunft aus ihm und ihre Leistung für ihn jemals verleugnen zu können. Volker Gerhardt stellt fest, dass die Vernunft also aufs Engste mit den körperlichen Funktionen zusammenhängt. Sie setzt die Leistungen der Sinne voraus. Ganz gleich ob sie etwas aufnimmt, für sich behält etwas ausdrückt oder begreift und mit alledem etwas für den eigenen Körper oder für die Körper der Anderen Bedeutsames macht.
Die Vernunft ist ein nicht-physisches Organ des Leibes
Dabei entfernt sich die Vernunft nicht von ihrem leibhaftigen Fundament. Denn was immer sie als Referenten hat – also das, was sie als ihre Bezugsgröße, ihr Problem oder jeweiliges Ganzes erfasst: Es bleibt ursprünglich mit dem Körper verknüpft, für den sie tätig ist. Die Vernunft wird also im Sinne des Körpers tätig. Für ihn spricht sie und ihn vertritt sie – vor seines- und ihresgleichen. Denn als Repräsentant des sie tragenden Körpers tritt sie nicht nur vor den Körpern der Anderen auf. Sondern auch vor deren Ich, durch das sich die anderen Körper ihrerseits vertreten lassen.
Vielleicht bezeichnet Friedrich Nietzsche auch deshalb die auf das Ich gegründete „kleine Vernunft“ als Geist. Die Vernunft ist also eng mit der Darstellung des Leibes vor anderen Leibern verbunden. In dieser Rolle erscheint sie als Instrument des Körpers, mit dessen Hilfe er sich Dinge, Sachverhalte und andere Leiber angleicht. Das versetzt ihn zugleich in die Lage, den eigenen Leib vor dem der anderen als ihnen gleichrangig zu vertreten. So kann die Vernunft als nicht-physisches Organ des Leibes begriffen werden. Quelle: „Humanität“ von Volker Gerhardt
Von Hans Klumbies