Mit der Wahrheit kamen der Irrtum und die Lüge in die Welt

Für Friedrich Nietzsche hat die „tragische Existenz“ des Menschen ihren Grund im menschlichen Glauben an die Wahrheit. Diese verband er mit der Leistung des Erkennens. Die „schrecklichste Minute der Weltgeschichte“ so meinte er, sein jene, „in der die Menschen das Erkennen erfanden“. Erst mit dem Erkennen komme die Wahrheit in die Welt – und mit ihr der Irrtum und die Lüge. Für Friedrich Nietzsche stand deshalb außer Zweifel, dass diese „klugen Tiere“, die das Erkennen „erfanden“ und sich bis heute „Menschen“ nennen, gar kein anderes Schicksal haben können, als „bald zu sterben“. Volker Gerhardt hält dagegen: „Das wahrhaft Tragische ist nur, dass wir diesen Glauben an die Wahrheit, trotz der Kritik Friedrich Nietzsches, gar nicht aufgeben können.“ Volker Gerhardt war bis zu seiner Emeritierung 2014 Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin.

Der Mensch ist mit der Vernunft und der Erkenntnis verbunden

Friedrich Nietzsche selbst kann offensichtlich auch nicht auf die Erkenntnis verzichten. Seine Bücher sind voller Einsichten und Erkenntnisse, an deren Wahrheit er im Augenblick der Niederschrift gewiss geglaubt hat. Seine Anhänger tun das bis heute. Tatsächlich haben die Menschen gar keine andere Möglichkeit, als in ihre ernstgemeinten Mitteilungen auf Wahrnehmungen, Erkenntnisse und Einsichten zu setzen. Wahrheit ist dabei eine Funktion des Erkennens, das selbst als eine Funktion der Mitteilung gelten kann.

Die Vernunft, die ihre Schlüsse zieht, ist das die Erkenntnis sowohl organisierende wie auch verbürgende Moment. Zudem ermöglicht sie Vergleich sowie die Bildung von Einheiten. Schließlich leitet sie den gesunden Menschenverstand der Urteilskraft an und gibt Gründe für das Handeln vor. In allen diesen Fällen ist der Mensch untrennbar mit der Vernunft und der Erkenntnis verbunden. Deswegen kann man auch auf die Vernunft nicht verzichten, wenn man etwas über die Natur des Menschen sagen will.

Das Bewusstsein stellt äußerliche wie innerliche Verbindungen her

Weder im Urteil über andere Lebewesen noch in der Einschätzung der Natur als ganzer ist es dem Menschen möglich, die Tatsache seiner menschliche Voreingenommenheit zu verleugnen. Es gelingt ihm unter keinen Umständen, die Befangenheit in seiner eigenen Vorstellungswelt hinter sich zu lassen. Nur in der Hinwendung zu seinesgleichen kann er erwarten, dass da andere sind, sie seine Vorstellungen teilen oder sie mit Gründen korrigieren.

Es ist tatsächlich das Bewusstsein, das dem Menschen die Möglichkeit verschafft, mit seinesgleichen äußerlich wie innerlich verbunden zu sein. Es erfasst nicht nur erkennbare Verhältnisse in seiner von ihm weitgehend einheitlich erfassten Außenwelt. Sondern es schließt auch die, wenngleich begrenzte, Nachvollziehbarkeit seiner Gemütszustände ein. Volker Gerhardt fügt hinzu: „Es umfasst mit den Tatsachen auch die möglichen Einstellungen zum Umgang mit ihnen. Menschliches Bewusstsein ist das Sensorium für gemeinsam bestehende Probleme und einer allgemein zugänglichen Erfahrungswelt.“ Quelle: „Humanität“ von Volker Gerhardt

Von Hans Klumbies