Die Leistung der Vernunft erschließt sich laut Volker Gerhardt nicht im rationalen Schließen. Um dies anschaulich zu machen, muss man ihre Tätigkeitsfelder in den Blick nehmen. Dann zeigt sich schnell, welchen Beitrag ihr allein die Organisation des Wissens verdankt. Denn Wissenschaft ist ohne methodische Anleitung, planvolle Heuristik und systematische Schlussfolgerungen nicht möglich. Vor allem im Maschinenwesen ist die Wirksamkeit einer planenden Hand, die eine rationale Überlegung steuert, unübersehbar. Selbst Riten, Zeremonien und Institutionen sind nicht mehr und nicht weniger als angewandte und sozial wirksame Vernunft. Die zentrale Leistung der Vernunft ist dabei das Begreifen von Ganzheiten. Es liegt sogar nahe, die Vernunft als Matrix des gesamten Weltgeschehens anzusehen. Volker Gerhardt war bis zu seiner Emeritierung 2014 Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin.
Die Bändigung des Feuers führte zum homo sapiens
Nichts kann eine größere praktische Relevanz haben als die Vernunft. Auch in der Frühgeschichte des Menschen dürfte es schwerfallen, eine Grenze zwischen rationalen und sozialen Effekten des menschlichen Handelns zu ziehen. Volker Gerhardt denkt dabei zum Beispiel an die Domestizierung des Feuers. Diese dürft gut anderthalb Millionen Jahre der Entwicklung der Hominiden in Anspruch genommen haben. Die Bändigung der zerstörerischen Kräfte des Feuers war gewiss der entscheidende Akt auf dem Weg zum homo sapiens und zum Aufbau menschlicher Kulturen.
Schon die Überwindung der Angst vor dem Feuer dürfte ohne soziale Unterstützung und Verstärkung kaum möglich gewesen sein. Sehr viel später wird dann dazu gekommen sein, ein bewusst gehegtes Feuer für eine Gruppe von Menschen, die Schutz oder Geselligkeit suchen, zu unterhalten. Wieviel Umsicht, wieviel planvolle Vorbereitung, fortgesetzte Kontrolle und Sorge für ausreichend brennbares Material waren nötig, um allein das Feuer so zu erhalten, dass es seinen Zweck erfüllen konnte.
Die Vernunft und die Emotionen sind keine Gegenspieler
Ohne Arbeitsteilung und wechselseitiges Vertrauen lässt sich das gar nicht vorstellen. Ebenso wenig wie der Anteil der Affekte, die den gelingenden Umgang mit dem Feuer begleitet haben. Volker Gerhardt erläutert: „Hier liegen rationale, soziale und affektive Kompetenz des Frühmenschen nahe beieinander.“ Mit dem Auftritt der menschlichen Vernunft hat das emotionale Potential jedoch nicht ausgedient. Es stellt sich ein, ohne eigens gefordert zu werden, und wird spätestens dann benötigt, wenn Widerstände zu bewältigen sind.
Das emotionale Potenzial wird zu Antriebskräften des rationalen Verhaltens moduliert, gelegentlich auch sublimiert. Es findet unter den Bedingungen der Kultur zu neuen Formen, denen die Vernunft nicht grundsätzlich entgegensteht. Im Gegenteil: Sie benötigt Gefühl und Leidenschaft, um überhaupt produktiv zu sein. Affekte und Emotionen zu haben, ist somit weder ein atavistischer Nachteil noch ein humanisierender Vorzug der menschlichen Rasse. Stets kommt es darauf an, wie der Mensch mit seiner unverzichtbaren Erbschaft an natürlichen Antrieben umgeht. Quelle: „Humanität“ von Volker Gerhardt