Friedrich Nietzsche bringt die Aphorismenform zur Vollendung

Für Vittorio Hösle ist die mittlere Schaffensperiode des außergewöhnlichen Denkers Friedrich Nietzsches seine philosophisch fruchtbarste, weil er in ihr einerseits schon fast alle seine bedeutenden Einsichten formuliert, freilich noch im Vertrauen auf die Wissenschaft und ohne die späte Aggressivität, andererseits weil er die ihm kongeniale Aphorismenform zur vorher und nachher in der deutschen Philosophie nicht erreichten Vollendung bringt. Aphorismen finden sich in seinen Werken „Menschliches, Allzumenschliches – Ein Buch für freie Geister“ (1878 – 1880), „Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile“ (1881) und „Die fröhliche Wissenschaft“ (1882). Vittorio Hösle erklärt: „Die Aphorismensammlung ist die Gegenform zum System, weil sie pointierte, oft paradoxe Einsichten ausdrückt und sich nicht darum zu kümmern braucht, ob diese einzelnen Einsichten einander folgen oder auch nur konsistent sind.“ Vittorio Hösle ist Paul Kimball Professor of Arts and Letters an der University of Notre Dame (USA).

Friedrich Nietzsche hat die Heuchelei der bürgerlichen Moral durchschaut

Aphorismen sind brillante Kurztexte, die den Autor nicht endgültig festlegen und den Leser zum Nachdenken und auch zum Einspruch einladen, da es dem Verfasser eben auch auf den Einwand ankommt. Vittorio Hösle erläutert: „Das Allusive der Form kann unter Bedingungen der Moderne besonders leicht zur moralischen Kritik verwendet werden, weil sie weniger verletzt als die meist kontraproduktive Gardinenpredigt und die Autonomie des Lesers mehr respektiert.“ Die französischen Moralisten des 17. und 18. Jahrhunderts haben diese Form erstmals auf meisterhafte Weise eingesetzt.

Das Paradox Friedrich Nietzsches, dieses Moralisten ohne Glauben an eine objektive Moral, besteht für Vittorio Hösle darin, dass er auf die Dauer jene moralische Zartheit unterhöhlt, die das Genre Aphorismus und anfangs ihn selbst animiert. Vittorio Hösle hat auch keinen Zweifel daran, dass Friedrich Nietzsche unter großen Schmerzen die Heuchelei der bürgerlichen Moral und zunehmend auch des Kunstbetriebs durchschaut hat. Auch sich selbst hat der Philosoph eindringlich erforscht.

Der freie Geist betrachtet die Welt ohne Ereiferung und kommt zur Seelenruhe

Vittorio Hösle betont: „Wie viel Eitelkeit, wie viel Wunsch nach Überlegenheit und Angst vor Unterlegenheit sogenannter Tugenden, wie viel lauernde Gemeinheit jeder Alltagskonversation zugrunde liegt, das hat keiner so tief empfunden wie dieser moralische Rigorist, dessen Lektüre fordernder ist als das strengste Beichtgespräch.“ Denn so verhängnisvoll Friedrich Nietzsches Kampf gegen die Nivellierer ist, so sehr hat er erkannt, dass der moderne Formalismus oft blind ist gegenüber dem Reichtum der Tradition an Werten und Tugenden.

Der erste Band der ersten der drei Aphorismensammlungen ist für Vittorio Hösle der beste von Friedrich Nietzsche. Weil es das umfassendste und am wenigsten extremistische Buch ist. Die Religion beruht für den großen Denker keineswegs nur auf Heuchelei, sondern auf angestrengtem und erfolgreichem Selbstbetrug. Das Wechselbad von Hochmut und Demut gelten bei Friedrich Nietzsche als weitere Schwächen des Christentums. Der freie Geist dagegen betrachtet die Welt ohne Ereiferung und kommt dadurch zur Seelenruhe.

Von Hans Klumbies