Die meisten Menschen denken nicht ans Sterben

Die vielleicht fundamentalste Erfahrung von Unkontrollierbarkeit ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit. Judith Glück erläutert: „Der Mensch ist das einzige Tier, das weiß, dass es sterben muss, wobei die meisten von uns die meiste Zeit recht erfolgreich darin sind, dieses Wissen zu verdrängen.“ Auch deshalb ist es für viele Menschen schwer erträglich, mit einer Person zusammen zu sein, die gerade jemanden verloren hat oder eine sterbende Person pflegt. Verschiedene Studien zeigen, dass viele Menschen auf die Konfrontation mit dem Thema Sterben mit einem verstärkten Bedürfnis reagieren, die dadurch hervorgerufenen Gedanken abzuwehren. Das tun sie vor allem auf zwei Arten: einerseits durch die Suche nach Selbstbestätigung, durch ein Sich-Besinnen auf die eigenen Leistungen und Fähigkeiten. Andererseits durch die Bestätigung ihres persönlichen und kulturellen Weltbildes. Judith Glück ist seit 2007 Professorin für Entwicklungspsychologie an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

Jeder sollte sein eigenes Lebensende annehmen

Wie gehen weise Menschen mit dem Tod um? Durch ihre Lebenserfahrung sind viele von ihnen diesem Thema schon recht nahe gewesen. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit wird typischerweise als ein Thema des höheren Alters angesehen. So hat beispielsweise der berühmte Psychoanalytiker Erik H. Erikson die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des eigenen Lebens als eine zentrale Herausforderung der letzten Lebensjahre angesehen.

Judith Glück erklärt: „Er ging davon aus, dass das Näherrücken des Lebensendes die Perspektive auf das ganze Leben verändert. Im Bewusstsein, nicht mehr viel ändern zu können, würden Menschen über ihr Leben nachdenken und sich günstigenfalls auch mit falschen Entscheidungen und traurigen Erfahrungen versöhnen können.“ Wer sein gelebtes Leben akzeptieren könne, könne auch das eigene Lebensende annehmen. Allerdings hat Erik H. Erikson selbst in seinen späten Jahren diesen hohen Anspruch etwas abgeschwächt.

Weise Menschen schätzen die Freuden des Alltags

Tatsächlich vermeiden viele Menschen die Auseinandersetzung mit sich selbst und ihrem Leben in allen Lebensphasen und vielleicht sogar speziell im höheren Alter. Laura Carstensen von der Stanford University hat gezeigt, dass das Ausmaß an verbleibender Lebenszeit, mit dem ein Mensch rechnet, deutliche Auswirkungen auf seine Prioritäten im Leben hat. Wer meint, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt, der möchte diese Zeit mit möglichst positiven Gefühlen verleben.

Er fokussiert sich darauf, Dinge zu tun und mit Menschen zusammen zu sein, die ihn glücklich machen. Für viele Menschen stehen dabei die kleinen Freuden des Alltags, das Zusammensein mit langjährigen Freunden, die Erinnerung an schöne Erlebnisse im Vordergrund. Auch weise Menschen wissen die Freuden des Alltags zu schätzen. Vielleicht umso mehr, als sie sich auch schon mit viel Schwerem auseinandergesetzt haben. Und sie wissen auch, wie sie sich selbst guttun können. Durch ihre lebenslange Auseinandersetzung mit sich selbst und dem Leben sind sie im Reinen mit sich und ihrer Lebensgeschichte. Quelle: „Weisheit“ von Judith Glück

Von Hans Klumbies