Rebekka Reinhard erklärt: „Das Leben schert sich einen Dreck um uns und unsere Erwartungen. Es interessiert sich nicht dafür, ob wir „gute Menschen“ sind oder nicht. Was passiert, passiert.“ Kann sein, dass Albert Camus eine andere Welt für möglich hält, eine, die Menschen nicht enttäuschen würde; eine sinnvolle, logische, widerspruchsfreie Welt. Doch wer kann ausschließen, dass nicht auch in dieser anderen Welt Zweifel grassieren? In Wahrheit ist es nicht die Realität, die Menschen das Leben schwer macht. Sie selbst sind es. Das Problem liegt nicht in der Kollision zwischen Erwartung und Welt, sondern darin, dass das etwas in den Menschen selbst aufeinanderprallt. Rebekka Reinhard ist Chefredakteurin des Magazins „human“ über Mensch und KI. Unter anderem ist sie bekannt durch den Podcast „Was sagen Sie dazu?“ der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft wbg.
Man kann jederzeit den Standpunkt des tiefgehenden Zweifels einnehmen
Viele Menschen leben ihr Leben von einem Standpunkt der Ernsthaftigkeit und Fraglosigkeit aus. Rebekka Reinhard erläutert: „Würden wir Job, Partner, Kind und Familie nicht ernst nehmen, wären wir bald arm und einsam. Allerdings können wir eben jederzeit auch einen anderen Standpunkt einnehmen: den des tiefgehenden Zweifels.“ Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel schreibt: „Diese beiden unvermeidlichen Perspektiven kollidieren in uns, und es ist dies, was das Leben absurd macht.“
Angesichts von Tod, Elend, Ungerechtigkeit an der Welt muss man fast am Sinn des Ganzen verzweifeln – und was tut man? Rebekka Reinhard stellt fest: „Man verzehrt Tag für Tag sein Frühstücksbrot und lebt einfach weiter: So als wären alle Fragen geklärt. Als ginge es nur darum, seine Nase zu behalten, nicht aufzufallen und jeden einzelnen Tag in der Normschublade zu versenken.“ Das klingt nicht nach gutem Leben. Das klingt absurd. Und eröffnet die Frage, wie sich jene beiden Standpunkte versöhnen lassen.
Im Leben geht es um Gestaltung
Das Absurde ist kein Hindernis für ein gutes Leben, sondern sein vielleicht wichtigstes Element. Das Leben hat keine Kommentarspalten. Es ist ein Text ohne Untertitel, Subtext. Leben ist. Rebekka Reinhard betont: „Es verlangt unsere volle Aufmerksamkeit und Achtsamkeit – die Gegenwärtigkeit im Unsinn einer Situation sich selbst neu zu entdecken: als verletzliches und kreatives Lebewesen, das fähig ist, die dicke Kruste verblödeter Vernunft aufzusprengen und sich mit anderem und anderen neu zu verbinden.“
Die menschliche Existenz ist merkwürdig. Sie gleicht mehr einem Werk Franz Kafkas als einer wissenschaftlichen Abhandlung. Rebekka Reinhard ergänzt: „Im Zimmer jenes imaginären Vertreters, der zum Ungeziefer mutierte, fehlt der allwissende Erzähler, die letztgültige Erklärung – im Leben auch.“ Im Leben geht es nicht um Logik, genauso wenig wie in einem Werk eines Avantgardekünstlers. Es geht um Gestaltung. Franz Kafkas „Verwandlung“ ist nicht in die Literaturgeschichte eingegangen, weil sie die Vernunft beleidigt, sondern weil die Absurditäten der Geschichte – paradoxerweise – ein stimmiges Kunstwerk ergeben. Quelle: „Wach denken“ von Rebekka Reinhard
Von Hans Klumbies