In der Retrospektive werden die Veränderungen des 5. und 6. Jahrhunderts als ein Wandel der politischen Welt Westeuropas beschrieben, der von einer unipolaren zu einer multipolaren Ordnung führte. Herfried Münkler ergänzt: „Diese multipolare Ordnung veränderte sich schneller als zuvor das unipolare System, wies dabei jedoch strukturbildende Dynamiken und Muster auf und kann insofern durchaus als politische Ordnung beschrieben werden.“ Die politischen Großräume kontrollierenden Reiche befanden sich entweder an den Schnittstellen der Wirtschaftskreisläufe, von deren Überlappungen sie profitierten, wie etwa das Osmanische Reich, oder sie lagen, wie Spanien, Frankreich und England, am geographischen Rand der von ihnen in Gang gesetzten Wirtschaftskreisläufe. Herfried Münkler ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Viele seiner Bücher gelten als Standardwerke, etwa „Imperien“ oder „Die Deutschen und ihre Mythen“.
Die politische Welt ist zunächst vielfältig und keineswegs polar geordnet
Ihre politische Ordnungsleistung erstreckte sich weitgehend auf Räume innerhalb Europas, und ihre politische Macht stützte sich dabei in hohem Maße auf militärische Fähigkeiten. Herfried Münkler erklärt: „Das gilt selbst für die sogenannten „seaborn empires“ Portugal und Niederlande, die bestrebt waren, sich auf ihre Wirtschaftskreisläufe zu konzentrieren und sich aus den politischen Machtkämpfen in Europa herauszuhalten.“ Nach der Maßgabe von Freundschaft oder Feindschaft beschrieben, ist die politische Welt zunächst vielfältig und keineswegs polar geordnet.
Herfried Münkler stellt fest: „Erst in einem längeren Prozess des Beschreibens von Konstellationen, des Durchspielens von Optionen und des tastenden Experimentierens der praktischen Politik mit Gemeinsamkeiten und Gegensätzen entwickeln sich polare Ordnungen, die dann gemäß der Anzahl darin enthaltener Pole als unipolar, bipolar oder multipolar bezeichnet werden.“ In diesem Prozess der Transformation einer im Nachhinein als Unordnung wahrgenommenen bloßen Vielfalt zu einer polaren Ordnung spielen strukturelle Unterschiede und Ähnlichkeiten eine ausschlaggebende Rolle.
Die internationalen Ordnungen erscheinen vielen Menschen als selbstverständlich
Dazu zählt Herfried Münkler etwa die der Geographie, der sprachlich-kulturellen Nähe und der politischen Verfasstheit, aber auch kontingente Faktoren, wie Personen, die zu einer bestimmten Zeit an der Spitze eines Staates stehen und seinen Kurs bestimmen, oder Ereignisse, die einen bestimmten Verlauf nehmen, aber auch ganz anders hätten ausgehen können. Haben sich die Ordnungen mitsamt ihrer jeweiligen Polarität erst einmal institutionell verfestigt und ist ein Geflecht der sie rechtfertigenden Narrative entstanden, dann erscheinen den Zeitgenossen die internationalen Ordnungen, in denen sie leben, als selbstverständlich.
Der Gedanke, dass die Bündnisse auch ganz andere sein könnten – und womöglich auch hätten sein sollen – drängt sich dann kaum noch auf. Herfried Münkler weiß: „Das war nicht nur in den vier Jahrzehnten des Ost-West-Konflikts der Fall, sondern auch in den langen geschichtlichen Perioden feststehender Bündnisse und Allianzen.“ Die Vorstellung einer ganz anderen Ordnung ist, um politische Relevanz zu erlangen, auf Konstellationen angewiesen, in denen eine Weltordnung kollabiert und nicht abzusehen ist, welche Ordnung an ihre Stelle treten könnte. Quelle: „Welt in Aufruhr“ von Herfried Münkler
Von Hans Klumbies