Die Geschichte des digitalen Ichs beginnt mit dem Spiegel

Die Geschichte des digitalen Ichs, haben Diemar Dath und Swantje Karich vorgeschlagen, beginnt mit einer Kommunikationsrevolution vor 500 Jahren. Aber nicht mit dem Buchdruck oder dem gemalten Portrait, sondern mit dem Spiegel. Valentin Groebner erklärt: „Ich habe nur eine vage Ahnung, wie ich selbst aussehe – unterschiedlich nämlich –, und ungenaue Vorstellungen davon, was andere an mir überzeugend finden, oder finden könnten.“ Aber der Spiegel macht, dass man die anderen, die einen anschauen, immer mitdenkt, wenn man sich in ihm betrachtet und sich dabei ziemlich gut findet. Blöderweise sind die anderen meistens gerade dann nicht da. Valentin Groebner lehrt als Professor für Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Luzern. Seit 2017 ist er Mitglied in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Erzählen ist Montage

Und für das, was ein Mensch vor dem Spiegel macht, hat die Alltagssprache ein Wort: erzählen. Valentin Groebner erläutert: „Erzählen bedeutet, eine Auswahl zu treffen. Erzählen ist Montage. Diese Szene; zack; dann diese. Erzählen vor dem Spiegel produziert den zugespitzten, bedeutsamen Moment, den einen Augenblick, in dem Ich selber so erscheine, wie ich es möchte.“ Dabei handelt es sich um das winzige Fragment Zeit, in dem man ganz Ich ist. Und das dann, blöderweise, schon wieder vorbei ist.

Erzählen ist deswegen Montage von Zeit. Im Gegensatz zur dramatischen Echtzeit der Livesendung, wo das, was der Zuschauer sieht, gerade passiert, ist beim Erzählen das zeitverzögerte Senden der Regelfall. Das gilt nicht nur im Kino, das längst fertiggestellte Filme zeigt, oder in Theater und Oper, die Texte und Musik von früher wieder aufführen. Valentin Groebner ergänzt: „Auch Büchereien und Plattenläden bieten kleine konservierte Brocken Altzeit. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen ist auch das, was Radio, Fernsehen und im Netz abgespielt wird, erneut abgespielte ältere Aufzeichnung.“

Die Hälfte der Zeit in den digitalen Kanälen ist verschwendet

Wenn sich trotz Intensität – „Jetzt!“ – einstellt, ist das die Arbeit des Publikums. Valentin Groebner stellt fest: „Es ist dessen Gefühlsarbeit, die ein früher aufgenommenes Bild, ein Musikstück oder Video, das vor drei Monaten entstanden ist, oder eine Textpassage aus einem Buch, das vor eineinhalb Jahren geschrieben worden ist, mit starker emotionaler Empfindung auflädt.“ Dasselbe gilt für die Selbstdarstellung im Netz. Das allermeiste davon war vorher schon irgendwo, nur eben noch nicht gepostet und online ins „Jetzt“ gestellt.

Dieses Jetzt erzeugt aber nicht mehr die eigene Person, auch wenn es um sie geht. Sondern das Publikum. Das aufgeregte „Jetzt“ der Intensität ist allerdings in den digitalen Kanälen nicht so einfach zu bekommen. Valentin Groebner betont: „Die Hälfte der Zeit, die man darin verbringt, ist umsonst, ärgerlich, verschwendet. Man weiß aber leider nie vorher, welche Hälfte.“ Und die digitalen Kanäle sind voll mit Werbung. Eine 2018 publizierte Schätzung: 50 Prozent aller Ich-Inhalte der sozialen Medien seien getarnte Reklame von kommerziellen Anbietern. Quelle: „Bin ich das?“ von Valentin Groebner

Von Hans Klumbies

2 Gedanken zu „Die Geschichte des digitalen Ichs beginnt mit dem Spiegel“

  1. Also: das alles habe ich nicht ganz kapiert?
    Woran liegt‘s?
    Am Thema? Am Inhalt? An der fortgeschrittenen Stunde ? (Bald Mitternacht!)
    An meiner Auffassungsgabe?
    Egal: komisches Thema….

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