Die Urteilskraft minimiert die Gefahr der Täuschung

Der Besitz von Urteilskraft ist eine der wesentlichen Eigenschaften eines Philosophen. Diese Fähigkeit besteht darin, vor der Äußerung eines Urteils, der Zustimmung zu einer Aussage beziehungsweise ihrer Ablehnung oder der Entscheidung für eine Handlungsweise die dazu leitenden Vorstellungen beziehungsweise Beweggründe präzise zu analysieren und so alles auf sein wahren Prinzipien zurückzuführen. Da dieses Vorgehen eine klare Erkenntnis der Wahrheit, der Wahrscheinlichkeit, der Zweifelhaftigkeit oder der Falschheit der untersuchten Aussagen mit sich bringt, minimiert der Besitz von Urteilskraft die Gefahr diesbezüglicher Täuschung. Urteilskraft fungiert also als Instanz zur Bewertung des Verhältnisses von Aussagen zu den unabhängig von Aussagen bestehenden Sachverhalten und bewirkt die treffende, obgleich nicht schnelle Bewertung der Weise, in der Aussagen Aufschluss über die Wirklichkeit geben. Allgemein gefasst heißt das, dass die Urteilskraft Aussagen überhaupt erst in eine bewertbare Beziehung zur Wirklichkeit setzt.

Die Urteilskraft führt zu einem erfolgreichen Umgang mit der Wirklichkeit

Die Urteilskraft ist daher weder ein bloß logisches Vermögen noch ist ihr Besitz auf die als Ideal entworfene Figur des Philosophen eingeschränkt. Weil jeder Mensch sich in der Welt orientieren und sich zu dieser in ein wie immer geartetes bewusstes beziehungsweise reflektierendes Verhältnis setzen muss, muss das Vermögen der Urteilskraft auch jedem Menschen irgendwie zukommen. Die Urteilskraft hat verschiedene Grade der Ausprägung, deren Vollkommenheit steigt, je mehr die Anfälligkeit einer Täuschung des Urteilenden sinkt.

Der Besitz ausgebildeter Urteilskraft führt also dazu, in der Regel von mehreren alternativen und logisch möglichen Aussagen diejenige auszuwählen, die entweder wahr ist oder der Wahrheit am nächsten kommt. Außerdem neigt ein solcher Denker zur Auswahl derjenigen Handlungsalternative, deren Verwirklichung Prinzipien entspricht oder zumindest am ehesten entspricht, die als moralisch gut und tunlich angesehen werden. Der Grad der Ausprägung der Urteilskraft entscheidet daher über den Grad des Erfolgs im Umgang mit der Wirklichkeit.

Das Denken über die Urteilskraft setzt bereits in der Antike ein

Das Denken der Aufklärung schließt hier an eine Tradition an, die bereits in der Antike einsetzt. Vor allem zwei Werke sind zu nennen, in denen der Begriff der Urteilskraft beziehungsweise deren Funktion eine prominente Rolle spielt und deren Bedeutung für die Diskussion des Zeitalters der Aufklärung unstrittig ist, nämlich die „Nikomachische Ethik“ des Aristoteles und die „Logique de Port-Royal“ von Antoine Arnauld und Pierre Nicole. Aristoteles diskutiert im 4. Buch der „Nikomachischen Ethik“ die Voraussetzungen des Zustandekommens von ethisch gerechtfertigten Entscheidungen und daraus unmittelbar hervorgehenden Handlungen.

Hierzu sind sowohl das Erkenntnis- als auch das Strebevermögen und beider Übereinstimmung unter Anleitung des rationalen Seelenteils notwendig. Sie sind auf zukünftige Zustände gerichtet, um derentwillen die bestehenden erkannt werden müssen. Die ethische Trefflichkeit des Resultats ist nur dann gesichert, wenn die Erwägung zu praktischer Wahrheit gelangt, deren Wirklichkeit im Handeln keinen Zweck außer sich selbst hat. Das betrifft als ethisch gutes Verhalten das ganze Leben des einzelnen Menschen. Quelle: „Handbuch Europäischer Aufklärung“ von Heinz Thoma (Hrsg.)

Von Hans Klumbies