Um 1900 entdeckte man neue Dimensionen der Psyche

Um die Jahrhundertwende entdeckt und erforscht Sigmund Freud die „oceanischen Gefühle“. Jürgen Wertheimer ergänzt: „Von Ich-Kult, von einer „Romantik der Nerven“ ist bei den Vordenkern der Bewegung des Jung-Wien die Rede.“ Hermann Bahr (1863 – 1934) erläutert: „Nicht Gefühle, nur Stimmungen suchen sie auf. Sie verschmähen nicht nur die äußere Welt, sondern am inneren Menschen selbst verschmähen sie allen Rest, der nicht Stimmung ist. Das Denken, das Fühlen und das Wollen achten sie gering und nur den Vorrat, welchen sie jeweilig auf ihren Nerven finden, wollen sie ausdrücken und mitteilen. Das ist ihre Neuerung.“ Schlagworte, welche die Forscher und Autoren der Zeit um 1900 europaweit bewegen. Künste und Wissenschaften entdecken die Abgründe der Seele und neue Dimensionen der Psyche. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

Selbst die Sprache verliert ihre Trennschärfe

Das Ich erscheint nur mehr als Durchgangsstation flüchtiger Impressionen, und der „ganze Dom aus Begriffen“ (Friedrich Nietzsche), den Europa im Laufe von Jahrhunderten errichtet hat, gerät ins Wanken. Selbst die Sprache verliert ihre Trennschärfe, und manchmal zerfallen die „Worte im Munde wie modrige Pilze“ (Hugo von Hofmannsthal). So etwa könnte man die Situation im Zeitraffer beschreiben – aber was heißt das konkret? Und wann hat es begonnen? Die europäische Zeitmaschine arbeitet langsam – aber nichts geht verloren.

Und bisweilen bricht etwas unvermutet auf und verdichtet sich dann zu einer Theorie, was bereits sehr viel früher intuitiv zu erspüren war. Die neuen „Nerven“ lagen nicht erst um 1900 blank. Jürgen Wertheimer erklärt: „1845, mitten im 19. Jahrhundert. Man sitzt, umgeben von goldbesticktem Plüsch, in einem Opernhaus und erwartet ein erhebendes vaterländisches Historiendrama – doch dann brechen, peitschen die aufheulenden Klänge des Wagnerschen „Tannhäusers“ auf das festlich gestimmte Parkett ein.“

Die Zeit der Jahrhundertwende entzieht sich einfachen Definitionen

Es ist das Jahr 1883, ein Stück deutscher Philosophie mag der Interessierte erwartet haben, idealistisch oder von ostasiatischer Weisheit grundiert. Stattdessen blafft ihn die geifernde, wütende, bissige Stimme eines gestrandeten, gottlosen Wanderpredigers an: Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“. Jürgen Wertheimer stellt fest: „Décadence, Naturalismus, Symbolismus, Ästhetizismus – die Zeit der Jahrhundertwende wird mit Attributen und Labels behängt und entzieht sich dennoch einfachen Definitionen.“ Um zu verstehen, was wirklich geschieht, tut man gut daran, noch einmal weit ins 19. Jahrhundert hinabzutauchen.

Jürgen Wertheimer erläutert: „Denn Ästhetizismus und Décadence, das heißt nicht primär sachtes Verdämmern in morbiden Phantasien, sondern vehementer Widerspruch; nicht Selbstpreisgabe, sondern Provokation.“ Gegen alles, was mit bürgerlicher Moral und mit bürgerlichen Ordnungsvorstellungen zu tun hatte. Sei es die Sterilität einer verknöcherten, besserwisserischen Aufklärung, die pseudopoetisch gestimmte, zum Klischee verkommene Romantik oder eine auf Fassade und Konvention gepolte Bourgeoisie. Quelle: „Europa“ von Jürgen Wertheimer

Von Hans Klumbies