Die Oktoberrevolution wurde zum Vorbild für die extreme Linke

Die deutsche Revolution von 1918/19 vollzog sich vor dem Hintergrund der Ereignisse in Russland, wo seit dem Sommer 1918 der offene Bürgerkrieg herrschte. Ulrich Herbert erklärt: „Antirevolutionäre Kräfte der verschiedensten Richtungen bekämpften dort das neue Regime an allen Fronten, unterstützt von Truppen der Westmächte, die ein Ausgreifen des revolutionären Elans nach Westen fürchteten.“ Die Randstaaten des Reiches erklärten ihre Unabhängigkeit, der russische Vielvölkerstaat schien auseinanderzubrechen. Die Wirtschaft versank im Chaos, die Produktion von Gütern ging dramatisch zurück, die Inflation stieg in schwindelerregende Höhen, wodurch ein riesiger Schwarzmarkt entstand. Der immer heftiger geführte Bürgerkrieg gefährdete auch die Versorgung mit Lebensmitteln in den Städten und führte schließlich zu Hungersnöten, denen rund zwei Millionen Menschen zum Opfer fielen. Ulrich Herbert zählt zu den renommiertesten Zeithistorikern der Gegenwart. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.

In Russland entstand eine Einparteiendiktatur

Nominell herrschten in Russland die Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte. So war es in der ersten Verfassung vom Juli 1918 festgeschrieben worden, die auch freie Wahlen zur Nationalversammlung vorsah. Tatsächlich aber verhinderten die Bolschewisten die Abhaltung der Wahlen, entmachteten die Räte, schalteten während der Jahre des Bürgerkriegs alle Konkurrenten aus und errichteten eine auf die Rote Armee und den Terror der Geheimpolizei gestützte Einparteiendiktatur. Diese Entwicklung bildete die Grundlage für die Wahrnehmung und Bewertung der Ereignisse und Entscheidungen der Revolution in Deutschland, und zwar in allen politischen Lagern.

Ulrich Herbert erläutert: „Bei den extremen Linken galt die russische Revolution als Beleg dafür, dass eine radikale Veränderung der Verhältnisse in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft möglich war – wenn sie nur konsequent betrieben wurde.“ Zugleich wurden der Aufmarsch konterrevolutionärer Truppen und der Bürgerkrieg in Russland als Bestätigung dafür empfunden, dass die Revolution nur gesichert werden konnte, wenn die alten Gewalten vollständig entmachtet wurden. Dazu waren grundlegende Veränderungen im Staatsapparat, im Militär und in der Wirtschaft nötig und die ungeteilte Macht der Arbeiter und Soldaten Voraussetzung.

Eine Revolution kann in einen Bürgerkrieg umschlagen

Allgemeine Wahlen, bei denen womöglich bürgerliche Parteien die Oberhand gewinnen könnten, würden die Revolution gefährden und waren deshalb abzulehnen. Ulrich Herbert erklärt: „Die Oktoberrevolution wurde so zur Blaupause für die revolutionäre Linke in Deutschland und in aller Welt, und mit der Kommunistischen Internationale wurde im März 1919 auch das Instrument geschaffen, um die Gesellschaften der industriellen Staaten nach russischem Vorbild umzuwälzen.“ Dem völlig entgegengesetzt war die Wahrnehmung der russischen Revolution in der Mehrheits-SPD.

Eine Revolution, so war man in der Mehrheits-SPD überzeugt, setzte eine Eigendynamik der radikalen Kräfte frei, gefährdete die Wirtschaft und die Versorgung der Bevölkerung, konnte in einen Bürgerkrieg umschlagen und letztlich zu einer Diktatur führen. Nichts war in den Augen Friedrich Eberts, seit 1913 Vorsitzender der SPD, in der damaligen Zeit gefährlicher als gesellschaftspolitische Experimente auf der Grundlage radikaler und utopischer Konzepte. Sozialistische Veränderungen konnten dereinst vorgenommen werden, wenn die Regierung dafür entsprechende parlamentarische Mehrheiten errungen hatte. Quelle: „Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert“ von Ulrich Herbert

Von Hans Klumbies