Moderne Ideologien sind Konzepte der Weltdeutung

Die radikale Veränderung der Welt in den zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg wurde von der bürgerlichen Gesellschaft als Krise und Bedrohung empfunden. Dies führte vor allem in Deutschland zum Aufkommen nicht minder radikaler Antworten auf die Verunsicherung. Ulrich Herbert erklärt: „Das schlug sich im Aufschwung der großen politischen Ideologien nieder, die im Zuge des Aufstiegs der Massengesellschaft so viele Menschen wie nie zuvor mobilisierten.“ Dabei ist zu bedenken, dass es sich bei modernen Ideologien um Konzepte der Weltdeutung handelt. Sie erläutern die komplexen Verhältnisse auf eingängige und einleuchtende Weise, heben dabei auf eindeutige Verursacher ab und bieten so Anleitungen für das Handeln und gewähren Sicherheit im Verhalten. Ulrich Herbert zählt zu den renommiertesten Zeithistorikern der Gegenwart. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.

Der Marxismus verlieh seinen Anhängern Selbstbewusstsein

Die modernen Ideologien füllten damals die Lücken, die durch das Zurückweichen der religiösen Orientierungen entstanden waren. Ulrich Herbert ergänzt: „Zugleich waren sie ein Reflex der modernen Partizipationsgesellschaften, in denen die Mobilisierung von Anhängern in nie zuvor gekannter Zahl ein politischer Faktor ersten Ranges wurde – durch Wahlen, durch politische Aktionen wie Demonstrationen oder Streiks, durch die aufkommenden Kommunikationsmittel und durch die Entstehung von mächtigen politischen und sozialen Massenorganisationen.“

Die sozialistische Arbeiterbewegung bot das Modell für diese Verbindung von Ideologie, politischer Aktion und Massenbewegung. Sie war sowohl sozialer Unterstützungsverband wie politische Partei, und die Überzeugung, mit dem Marxismus ein Erklärungssystem zu besitzen, das die gerade durchlebten Prozesse des Wandels treffsicher analysieren und die weitere Entwicklung treffsicher voraussagen konnte. Dieses System verlieh ihren Anhängern Sicherheit und Selbstbewusstsein. Der Erfolg des popularisierten Marxismus beruhte vor allem darauf, dass die Erfahrungen von Ausbeutung, Diskriminierung und Verfolgung der sozialistischen Arbeiter als Teil jenes ewigen Kampfes zwischen den ausbeutenden und ausgebeuteten Klassen erklärt werden konnten, der sich durch die ganze Geschichte der Menschheit zog.

Der Arbeiterbewegung gefällt die Idee der nationalen Einheit

Die Versuche der Obrigkeit, sich der proletarischen Umstürzler durch Ausnahmegesetze und den Einsatz von Truppen zu erwehren, bestätigten die marxistische Analyse des Klassenstaates und der Klassenjustiz. Ulrich Herbert stellt allerdings fest, dass die durch die marxistische Theorie nicht zu erklärende Widersprüche einfach negiert wurden. „Zwar war vor allem in den 1850er Jahren ein erheblicher Teil der neuen Arbeiterklasse tatsächlich sozial verelendet – seit den 1890er Jahren aber gab es deutliche Hinweise auf eine langsame, aber stetige Verbesserung der sozialen Lage.“

Zwar wurde in der Arbeiterbewegung der Gedanke des Internationalismus hochgehalten, aber tatsächlich wurden auch die sozialistischen Arbeiter mehr und mehr von der Idee der nationalen Einheit, vom Bezug auf Vaterland und Patriotismus erfasst. Die revolutionäre Perspektive der Arbeiterbewegung wurde indes in der politischen Praxis bald gemildert, und zwar umso mehr, je größer die sozialen und politischen Erfolge der Sozialdemokratie in der Gesellschaft des Kaiserreiches wurde. Quelle: „Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert“ von Ulrich Herbert

Von Hans Klumbies