Der Kaiser wurde zum Symbol der neuen deutschen Nation

Mit der Gründung des Deutschen Reichs im Januar 1871 war das seit Beginn des Jahrhunderts offene Problem eines deutschen Nationalstaats mit dem Schwert gelöst worden. Alle anderen Anläufe, insbesondere der bürgerlich-revolutionäre Versuch von 1848/49 waren vorher gescheitert. Ulrich Herbert erläutert: „Das Reich war von Fürsten, Beamten und Militärs geschaffen worden, nicht von Bürgern, Bauern oder Arbeitern. Das spiegelte sich in Verfassung und politischer Struktur ebenso wider wie in den gesellschaftlichen Rangordnungen.“ Das politische Herrschaftssystem basierte auf vier Verfassungsorganen: Kaiser, Kanzler, Reichstag und Bundesrat. Das Parteiensystem setzte sich aus fünf relativ stabilen Parteirichtungen zusammen: Konservative, Nationalliberale, Linksliberale, Zentrum und Sozialdemokratie. Ulrich Herbert zählt zu den renommiertesten Zeithistorikern der Gegenwart. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.

Der Kaiser entschied über Krieg und Frieden

Die Rolle des Kaisers war zunächst eher im föderalen Rahmen angesiedelt: „Als König von Preußen sollte er vor allem als Inhaber der Bundespräsidialgewalt agieren.“ Aber schon nach wenigen Jahren wurde der Kaiser als Symbol des neuen nationalstaatlichen Reiches angesehen. In Bezug auf Regierung und Gesetzgebung waren allerdings die Kompetenzen des Monarchen begrenzt. Aber er konnte immerhin den Reichstag auflösen und den Kanzler, ebenso wie alle anderen Mitglieder der Regierung, ernennen und entlassen.

Darüber hinaus verfügte der Kaiser über eine Reihe von Sonderrechten, die seinen Machtumfang insbesondere in Krisenzeiten ausweiteten und ihm eine in Europa außergewöhnliche Machtstellung einräumten. Ulrich Herbert erklärt: „Er entschied über Krieg und Frieden und besaß über die Kommandogewalt beim preußischen Heer die alleinige Entscheidungsbefugnis über das Militär, das mithin weder dem Reichstag, noch dem Bundesrat, noch dem Reichskanzler unterstand. Schon dadurch wurde auch die besondere Rolle des Militärs dokumentiert.“

Der Kanzler bestimmte die Grundlinien der Politik

Die antiparlamentarischen Kräfte besaßen in der Sonderstellung des Kaisers und des Militärs ihre Machtbasis. Noch im Jahr 1910 bemerkte ein Wortführer der preußischen Konservativen: „Der König von Preußen und der Deutsche Kaiser muss jeden Moment imstande sein, zu einem Leutnant zu sagen: nehmen sie zehn Mann und schließen sie den Reichstag.“ Das neue Deutsche Reich hatte eine >Reichsleitung<, aber keine Regierung. Darin drückte sich aus, dass es nur einen einzigen Minister gab, den Reichskanzler. Der Reichskanzler bestimmte die Grundentscheidungen und Linien der Politik. Seine Machtfülle war erheblich, zumal er gleichzeitig als Ministerpräsident Preußens, des bei weitem größten Bundesstaates, fungierte. Ulrich Herbert fügt hinzu: „Zugleich stand er jedoch in einer doppelten Abhängigkeit – vom Kaiser, der ihn ernannte und entlassen konnte, und vom Reichstag. Das Parlament besaß zwar nicht das Recht, ihn zu wählen oder abzuwählen. Aber der Kanzler musste Gesetze und vor allem den Haushalt vom Reichstag bestätigen lassen. Quelle: „Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert“ von Ulrich Herbert. Von Hans Klumbies