In dem Buch „Buddenbrooks“ von Thomas Mann lautet der zentrale Begriff für das Regelsystem, an dem sich ein Verhalten zu orientieren hat, Contenance. Contenance bedeutet zum Beispiel für Thomas Buddenbrook zuallererst Selbstbeherrschung. Starke Empfindungen sind ihm durchaus nicht fremd, etwa eine „reizbarere Schmerzfähigkeit“ beim Tod des Vaters. Ulrich Greiner zitiert Thomas Mann, der über Thomas schreibt: „Dennoch pflegte er nicht am Grabe in die Knie zu sinken, hatte er sich niemals, wie seine Schwester Tony, über den Tisch geworfen, um zu schluchzen wie ein Kind, empfand er als im höchsten Grade peinlich die großen, mit Tränen gemischten Worte, mit denen Madame Grünlich zwischen Braten und Nachtisch die Charaktereigenschaften und die Person des toten Vaters zu feiern liebte. Solchen Ausbrüchen gegenüber hatte er einen taktvollen Ernst, ein gefasstes Schweigen, ein zurückhaltendes Kopfnicken.“ Ulrich Greiner war zehn Jahre lang der Feuilletonchef der ZEIT. Als Gastprofessor lehrte er in Hamburg, Essen, Göttingen und St. Louis. Außerdem ist er Präsident der Freien Akademie der Künste in Hamburg.
Das innere Gleichgewicht ist für Thomas die Hauptsache
Umso mehr stößt ihn das haltlose Benehmen seines Bruders Christian ab, dessen Unseriöses und zugleich großspuriges Auftreten in der Hansestadt unverständliches Kopfschütteln auslöst. Selbst die Schwester Tony findet Christian manchmal ein bisschen sonderbar. Thomas sagt über seinen Bruder: „Ihm fehlt etwas, was man das Gleichgewicht, das persönliche Gleichgewicht nennen kann. Einerseits ist er nicht imstande, taktlosen Naivitäten anderer Leute gegenüber die Fassung zu bewahren. Er ist dem nicht gewachsen, er versteht nicht, es zu vertuschen, er verliert ganz und gar die Contenance.“
Und andererseits kann Christian auch in der Weise die Contenance verlieren, dass es selbst in das unangenehmste Ausplaudern gerät und sein Intimstes nach außen kehrt. Christian, so sagt Thomas auch, beschäftigt sich zu viel mit sich selbst: „Ich selbst habe manchmal über diese ängstliche, eitle und neugierige Beschäftigung mit sich selbst nachgedacht, denn ich habe früher ebenfalls dazu geneigt. Aber ich habe gemerkt, dass sie zerfahren, untüchtig und haltlos macht … und die Haltung, das Gleichgewicht ist für mich meinerseits die Hauptsache.“
Die Contenance steht auf schwankendem Boden
Das ist für Ulrich Greiner ein vielsagendes Geständnis. Es verrät die Differenz zwischen einer gesellschaftlich und auch im eigenen Interesse gebotenen Haltung einerseits und einem Bedürfnis nach Selbstwahrnehmung andererseits, wie es ein Kennzeichen des allmählich entstehenden modernen Individuums ist. Ulrich Greiner stellt fest: „Das heißt: Contenance als quasi naturgegebene Position, als das selbstverständliche Geborgensein im schützenden System ständischer Regeln, steht nun auf schwankendem Boden und wird somit zu einer durch die Kraft des Willens gegen innere Widersprüche erkämpften Haltung.“
Was der Roman „Buddenbrooks“ unter anderem zeigt, ist das allmähliche Schwachwerden dieser Willenskraft. Bei Thomas Buddenbrook äußert es sich beispielsweise in einem frühzeitigen Alterungsprozess. Ulrich Greiner fügt hinzu: „Seine Vitalität schwindet, private wie ökonomische Fehlentscheidungen nehmen zu. Zugleich wächst damit das Potential der Peinlichkeit. Sie wird zu einer bedrohlichen Macht, und bedrohlich ist sie, weil sie die Risse im sozialen Gefüge anzeigt. Sich dagegen zu wehren ist heldenhaft, doch aussichtslos.“ Quelle: „Schamverlust“ von Ulrich Greiner
Von Hans Klumbies