Das schlechte Gewissen ist die Angst vor dem Liebesverlust

Wenn sich eine Gesellschaft verändert, unterliegt auch die Gefühlskultur einem Wandel. Ulrich Greiner erklärt: „Zwar ist das Schamgefühl generell ein Merkmal menschlicher Zivilisation, doch seine Empfindlichkeit und die Anlässe seiner Erregung bleiben abhängig vom jeweiligen historischen und sozialen Umfeld.“ Die Wissenschaft hat versucht, diese Felder begrifflich zu fassen und sie einer „Schamkultur“ oder einer „Schuldkultur“ zuzuordnen. Ein schlechtes Gewissen kann die Lebenskraft untergraben und in äußersten Fällen bis hin zu einen langsamen Siechtum führen. Sigmund Freud schreibt in seiner Abhandlung über das „Unbehagen in der Kultur“ über das schlechte Gewissen folgendes: Es ist zunächst nur eine soziale Angst, nämlich Angst vor dem Liebesverlust. Ulrich Greiner war zehn Jahre lang der Feuilletonchef der ZEIT. Als Gastprofessor lehrte er in Hamburg, Essen, Göttingen und St. Louis. Außerdem ist er Präsident der Freien Akademie der Künste in Hamburg.

Zwischen Über-Ich und Ich kommt es zu Spannungen

Sigmund Freud gelangt zu diesem Gedanken, indem er danach fragt, welcher Mittel sich die Kultur bedient, um jene Aggression, die dem Menschen eigentümlich ist, unschädlich zu machen, und er erläutert: „Die Aggression wird introjiziert, verinnerlicht, eigentlich aber dorthin zurückgeschickt, woher sie gekommen ist, also gegen das eigene Ich gewendet. Dort wird es von einem Anteil des Ichs übernommen, das sich als Über-Ich dem übrigen entgegenstellt und nun als Gewissen gegen das Ich dieselbe strenge Aggressionsbereitschaft ausübt, die das Ich gerne an anderen, fremden Individuen befriedigt hätte.“

Sigmund Freud fährt fort: „Die Spannung zwischen dem gestrengem Über-Ich und dem ihm unterworfenen Ich heißen wir Schuldbewusstsein; sie äußert sich als Strafbedürfnis. Die Kultur bewältigt also die gefährliche Aggressionslust des Individuums, indem sie es schwächt, entwaffnet und durch eine Instanz in seinem Inneren, wie durch eine Besatzung in der eroberten Stadt, überwachen lässt.“ Warum aber fragt Sigmund Freud weiter, unterwirft sich der Mensch überhaupt äußeren Geboten?

Vor dem Über-Ich lassen sich selbst Gedanken nicht verbergen

Bei Kind ist die Antwort klar: Weil es die Liebe, die Zuwendung der Eltern nicht verlieren will. Beim Erwachsenen tritt an deren Stelle die menschliche Gemeinschaft. Sigmund Freud erklärt: „Darum gestatten sie sich regelmäßig, das Böse, das ihnen Annehmlichkeiten verspricht, auszuführen, wenn sie nur sicher sind, dass die Autorität nichts davon erfährt oder ihnen nichts anhaben kann, und ihre Angst gilt allein der Entdeckung.“ Nun kommt, so Sigmund Freud, eine zweite Entwicklungsstufe hinzu: Die äußere Autorität wird durch die Aufrichtung eines Über-Ichs verinnerlicht.

Sigmund Freud fügt hinzu: „Damit werden die Gewissensphänomene auf eine neue Stufe gehoben, im Grunde sollte man erst jetzt von Gewissen und Schuldgefühl sprechen. Jetzt entfällt auch die Angst vor dem Entdecktwerden und vollends der Unterschied zwischen Böses tun und Böses wollen, denn vor dem Über-Ich kann sich nichts verbergen, auch Gedanken nicht.“ Auf dieser zweiten Entwicklungsstufe benimmt sich das Gewissen umso strenger und misstrauischer, je tugendhafter der Mensch ist, so dass am Ende gerade die es in der Heiligkeit am weitesten gebracht, die sich der ärgsten Schuldhaftigkeit beschuldigten. Quelle: „Schamverlust“ von Ulrich Greiner

Von Hans Klumbies

Schreibe einen Kommentar