Der Beruf hat seine Sicherheit und Schutzfunktion verloren

Die Bedeutung, die die Arbeit in den westlichen Industriegesellschaften gewonnen hat, ist in der Historie beispiellos. Dieser starke Einfluss entsteht möglicherweise auch daraus, dass die Arbeitskraft die Grundlage der Sicherung der Existenz und gerade auch der individualisierten Lebensführung ist. Ulrich Beck schreibt: „Erwerbsarbeit und Beruf sind im Industriezeitalter zur Achse der Lebensführung geworden. Zusammen mit der Familie bildet sie das zweipolige Koordinatensystem, in dem das Leben in dieser Epoche befestigt ist.“ Das Erwachsensein steht seiner Meinung nach völlig unter den Sternen der Erwerbsarbeit – nicht nur allein aufgrund der zeitlichen Beanspruchung durch die Arbeit selbst, sondern auch deren Verarbeitung oder Planung in der Zeit außerhalb, sei es davor oder danach. Ulrich Beck war bis 2009 Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Seither ist er Gastprofessor für Soziologie an der London School of Economics and Political Science.

Der Beruf gibt einige Schlüsselinformationen über einen Menschen preis

Wenn jemand den Beruf seines Gegenübers versteht, glaubt er ihn zu kennen. Der Beruf dient laut Ulrich Beck als wechselseitige Schablone der Identifikation, mit der sich Menschen gegenseitig in ihren persönlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten sowie in ihrer ökonomischen und sozialen Stellung einschätzen. Ulrich Beck hält es für sehr seltsam, eine Person mit dem Beruf gleichzusetzen, den diese ausübt. Dennoch muss er zugegen, dass der Beruf einige Schlüsselinformationen preisgibt wie Einkommen, Status, Sozialkontakte, mögliche Interessen und vieles mehr.

Für den deutschen Soziologen Helmut Schelsky sind Familie und Beruf die zwei großen Sicherheiten, die den Menschen in der Moderne geblieben ist. Helmut Schelsky sagte dies Mitte der 60er Jahre. Heute dagegen herrscht eine Epoche der totalen Unsicherheit. Früher verliehen Familie und Beruf dem Leben eine gewisse Innenstabilität. Im Beruf wurde dem Individuum der Zugang zu den gesellschaftlichen Wirkungszusammenhängen eröffnet. Der Berufsinhaber wurde zum Mitgestalter der Welt im Kleinen.

Die Industriegesellschaft ist durch und durch eine Erwerbsarbeitsgesellschaft

Auch heute noch garantiert der Beruf grundlegende Sozialerfahrungen, denn der Beruf ist ein Ort, an dem soziale Wirklichkeit in der Teilnahme, sozusagen aus erster Hand, erfahren werden kann. Allerdings hat der Beruf seine ehemaligen Sicherheiten und Schutzfunktionen verloren. Ulrich Beck schreibt: „Mit dem Beruf verlieren die Menschen ein mit der industriellen Epoche entstandenes, inneres Rückrat der Lebensführung. Die Probleme und Vorgaben der Erwerbsarbeit durchstrahlen die gesamte Gesellschaft.“

Die Industriegesellschaft ist laut Ulrich Beck auch außerhalb der Arbeit der Schematik des Lebens durch und durch eine Erwerbsarbeitsgesellschaft – in ihren Freuden und Leiden, in ihrem Begriff von Leistung, in ihrer Rechtfertigung von Ungleichheit, in ihrem Sozialrecht, in ihrer Machtbalance sowie in ihrer Politik und Kultur. Wenn sich in der Industriegesellschaft ein Systemwandel in der Erwerbsarbeit vollzieht, heißt das für Ulrich Beck, dass ihr dann auch ein Wandel in der gesamten Gesellschaft bevorsteht.

Von Hans Klumbies