Die Demokratie braucht mündige Bürger

Die Demokratie ist die einzige Organisationsform, die den mündigen Bürger braucht. Für Theodor W. Adorno war die Forderung nach Mündigkeit in einer Demokratie selbstverständlich. Ulf Poschardt stellt fest: „Damit versteht er Politik eben auch als etwas, das nicht Populisten, Sentimentalisten, Panikpredigern und Opportunisten überlassen werden darf.“ Theodor W. Adornos Verneigung vor Immanuel Kant fällt tief aus. Der Dialektiker der Aufklärung scheint 1969 von der Aktualität des Denkers aus Königsberg beeindruckt. Der Philosoph, noch ganz ergriffen oder traumatisiert von den radikalen Bürgerkindern von 1968, beschreibt die Demokratie als ein Ereignis freier Willensbildung. „Soll dabei nicht Unvernunft resultieren, so sind die Fähigkeit und Mut jedes einzelnen, sich seines Verstandes zu bedienen, vorausgesetzt“, erklärt Theodor W. Adorno. Seit 2016 ist Ulf Poschardt Chefredakteur der „Welt-Gruppe“ (Die Welt, Welt am Sonntag, Welt TV).

Mündigkeit ist Freiheit vermittels der Vernunft

Theodor W. Adorno fährt anschließend drastisch fort: „Hält man daran nicht fest, so wird alle Rede von Kants Größe Geschwätz. Lippendienst.“ Theodor W. Adorno, der die Aufklärung voller dialektischer Klippen sah, zeichnet ein ziemlich ungebrochen affirmatives Bild der Mündigkeit. Für ihn ist Mündigkeit Freiheit vermittels der eigenen Vernunft. Mündigkeit ist Voraussetzung für die Demokratie. In der außerparlamentarischen Opposition (APO) erblickte er weniger autonomes Rebellentum als zähen Opportunismus.

Er begegnete dort „immer dem Zwang, sich auszuliefern, mitzumachen, und dem habe ich mich seit meiner frühesten Jugend widersetzt.“ Seine Autonomie des Denkens war eben auch die Rendite einer Verweigerung ausgreifender Anpassungstendenzen. Loyalitätszwänge waren Theodor W. Adorno ebenso fremd wie die Neigung der Aktivisten, die Theorie einer praktischen Vorzensur zu unterwerfen, wenn sie die Handlungsbedürfnisse stört. Theodor W. Adornos Denken, Schreiben und Handeln blieb bis zum Schluss im Drift.

Bildung immunisiert gegen den Drang zum Kollektiv

Es war seine Rebellion gegen die Unfreiheit der Gesellschaft, die er am Ende seines Lebens auch bei den 68ern greifen sah. Er wusste, „dass schon die Voraussetzung der Mündigkeit, von der eine freie Gesellschaft abhängt, von der Unfreiheit der Gesellschaft determiniert“ seien. Das hat auch mit dem Deutschsein zu tun, dem es am Talent zum Individualismus fehlt, wie Theodor Mommsen, es 1899 in seinem Vermächtnis bitter formuliert. Der Einzelne kommt dabei über den Dienst im Gliede und dem politischen Fetischismus nicht hinaus.

Das klingt für Ulf Poschardt im hyperopportunistischen 21. Jahrhundert schreiend aktuell. In der Erziehung kommt der mündige Einzelne zu kurz. Auch das versteht Theodor W. Adorno als etwas sehr Deutsches. In der Bildung scheinen Autonomie und Mündigkeit das Ideal zu sein. Aber zu oft sind Autorität und Bindung die Realität. Mündigkeit kann durch Bildung nur in einer freien Gesellschaft vermittelt werden. In seinem ergreifenden Text über die „Erziehung nach Auschwitz“ versteht der Bildung auch als eine Art Immunisierung gegen den Drang zum Kollektiv. Quelle: „Mündig“ von Ulf Poschardt

Von Hans Klumbies