Tyrannenkinder sind weder böse noch wahnsinnig

Martina Leibovici-Mühlberger übt in ihrem Buch „Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden“ herbe Kritik am bestehenden Gesellschaftssystem. Neben einer Gruppe von Kindern, die derart auffällig geworden sind, dass sie psychotherapeutisch behandelt werden müssen – jene Kinder also, die nach der langjährigen Einschätzung der Autorin nach einfach ganz, ganz laut werden müssen, um auf ihre innere Not und Verwirrung hinzuweisen –, neben dieser sichtbaren Spitze des Eisbergs gibt es eine weitere, noch viel größere und beständig wachsende Gruppe von Kindern, die gerade noch unterschwellig verhaltensauffällig sind. Aber auch sie sind in der einen oder anderen Form deutlich beeinträchtigt und geben Anlass zur Besorgnis, wenn Martina Leibovici-Mühlberger darüber nachdenkt, wie sie in Zukunft ein erwachsenes, selbstverwaltetes Leben führen und befriedigende respektvolle Beziehungen mit anderen Menschen eingehen sollen. Die Ärztin Martina Leibovici-Mühlberger leitet die ARGE Erziehungsberatung und Fortbildung GmbH, ein Ausbildungs-, Beratungs- und Forschungsinstitut mit sozialpsychologischem Fokus auf Jugend und Familie.

Die Botschaft der verhaltensauffälligen Kinder ist die Verweigerung

Martina Leibovici-Mühlberger zitiert eine altgediente Pädagogin, die diesen Befund prägnant zusammenfasst: „Als ich vor dreißig Jahren in den Schuldienst eintrat und als klassenführende Pädagogin zu arbeiten begann, hatten wir drei bis vier in irgendeiner Weise schwierige Kinder pro Klasse. Heute habe ich eine gute Klasse, wenn drei bis vier Kinder keine Auffälligkeiten zeigen oder gerade extremen Stress wegen der Probleme der Eltern haben.“ Die auffälligen Kinder legen ein Verhalten an den Tag, das gravierende Mängel im altersadäquaten Selbstmanagement und der Fähigkeit, sich selbst zu beruhigen, zeigt.

Die eigentliche Botschaft der meisten verhaltensauffälligen Kinder ist für Martina Leibovici-Mühlberger die Verweigerung. Und hier könnte Schlimmes auf die Gesellschaft zukommen, wenn in zehn bis fünfzehn Jahren die dann jungen Erwachsenen nichts anderes sind als Vierjährige, die ihre emotionale Steuerung noch nicht ausreichend im Griff haben. Die Zukunft der Tyrannenkinder könnte die die Eltern noch weit schlimmer aussehen als die Gegenwart. All diese Kinder sind allerdings weder böse noch wahnsinnig.

Verhaltensauffällige Kinder schreien: „Erzieht uns endlich!“

Was sie aber brauchen, ist Hilfe, und zwar unmittelbar, rasch und auf grundsätzlicher Ebene. Die Eltern haben einen Auftrag in Bezug auf ihre Kinder. Sie sind für sie verantwortlich und müssen sie fit fürs Leben machen. Die Eltern müssen sie durch ihre Kindheit und Jugend begleiten, bis sie im jungen Erwachsenenalter endlich in die Unabhängigkeit entlassen werden können. Eltern müssen kraft ihres Erfahrungsvorsprungs Kompetenz in der Führung und Orientierung beweisen. Sogenannte moderne Eltern führen aber leider ihre Kinder nicht mehr, sondern wollen Kumpel sein.

Martina Leibovici-Mühlberger fordert die Eltern auf, Verantwortung zu übernehmen, ihre Rolle zu reflektieren und ihre elterlichen Pflichten zu erfüllen. „Erzieht uns endlich!“ lautet der Appell der tyrannischen, verhaltensauffälligen Kinder, die sie dieser Elterngeneration und Gesellschaft täglich auf unterschiedliche Weise ins Gesicht schreien. Die Botschaft, die Martina Leibovici-Mühlberger in ihrer Streitschrift verbreitet, ist sehr einfach: „Wenn wir es nicht mehr schaffen, Bindung und Beziehung zu unseren Kindern aufzubauen, wird uns nichts mehr helfen können. […] Wenn wir unsere Verantwortung als Eltern und als Gesellschaft nicht endlich ernst nehmen, werden die Kinder zuerst Verhaltensauffälligkeiten zeigen und sich dann, wenn sie erst einmal erwachsen sind, von uns und der Gesellschaft abwenden. Mit vollem Recht!“

Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden
Warum wir nicht auf die nächste Generation zählen können
Martina Leibovici-Mühlberger
Verlag: edition a
Gebundene Ausgabe: 155 Seiten, Auflage: 2016
ISBN: 978-3-99001-138-6, 21,90 Euro

Von Hans Klumbies