In egalitären Gesellschaften herrscht mehr Vertrauen

Damit eine Gemeinschaft funktioniert, muss gemäß Tony Judt gegenseitiges Vertrauen vorhanden sein. Dies gilt sowohl bei spielenden Kindern als auch bei komplexen sozialen Institutionen. Eine erfolgreiche Zusammenarbeit ist nur möglich, wenn die Menschen ihr Misstrauen ablegen. Eine Person vertraut einer anderen Person, weil sie mit Anerkennung rechnen und weil Kooperation zum Vorteil einer Gemeinschaft offenbar in der Natur des Menschen begründet ist. Tony Judt nennt als Beispiel die Steuern. Der Steuerzahler geht von bestimmten Annahmen aus. Erstens glaubt er, dass seine Mitbürger ebenfalls Steuern zahlen, da er sich sonst unfair belastet fühlt und irgendwann selbst auch keine Abgaben mehr entrichten würde. Zweitens nimmt er an, dass die Regierung das Geld vernünftig verwaltet und für sinnvolle Zwecke ausgibt. Würde sich herausstellen, dass Steuergelder verschleudert werden, hätte der Steuerzahler viel Geld verloren.

Menschen betrachten sich als Teil einer generationsübergreifenden Gemeinschaft

Drittens fließt der größte Teil der Steuereinnahmen in die Tilgung von Schulden oder Investitionen. Es besteht für Tony Judt ein stillschweigendes Verhältnis von Vertrauen und Gegenseitigkeit zwischen gestrigen Steuerzahlern und heutigen Nutznießern, heutigen Steuerzahlern und zukünftigen Nutznießern und natürlich zukünftigen Steuerzahlern, die für die Altersversorgung der heute arbeitenden Generation zu sorgen hat. Tony Judt erklärt: „Wir müssen also wildfremden Leuten vertrauen, mit denen uns eine komplexe Beziehung von wechselseitigem Interesse verbindet.“

Die Menschen sind laut Tony Judt dazu bereit, für kollektive Aufgaben Geld zu geben, weil andere das auch schon früher getan haben und sie sich, meist ohne groß darüber nachzudenken, als Teil einer generationsübergreifenden Gemeinschaft betrachten. Der englische Philosoph Michael Oakeshott definiert auch die Politik als Funktion von Vertrauensgemeinschaften: „Politik ist jenes Handeln, dass die Lebensverhältnisse einer Gruppe von Menschen regelt, die, insofern sie dieses Handeln anerkennen, eine Gemeinschaft bilden.“

Ein vergleichbarer Lebenstil führt zu ähnlichen Einstellungen

Tony Judt schreibt: „Je mehr Gemeinsamkeiten wir mit anderen teilen, desto eher vertrauen wir ihnen. Je egalitärer eine Gesellschaft, desto größer ist das Vertrauen.“ Das ist seiner Meinung nicht nur eine Frage des Einkommens. Denn dort, wo Menschen ähnlich leben und vergleichbare Chancen haben, werden sie auch ähnliche Einstellungen haben. Das wiederum macht es leichter, tiefgreifende politische Entscheidungen zu treffen.

In komplexen oder polarisierten Gesellschaften dagegen, müssen die Minderheit und manchmal sogar die Mehrheit Zugeständnisse machen, oft gegen ihren Willen. Der politische Entscheidungsprozess ist dann kompliziert, nur minimale Reformen lassen sich durchsetzen. Lieber wird alles beim Alten gelassen, nur um die Gesellschaft wegen eines umstrittenen Projekts nicht noch tiefer zu spalten.

Von Hans Klumbies