Tony Judt beschreibt das Berufsethos des Historikers

Der Historiker Tony Judt hegt keinen Zweifel daran, dass man die Vergangenheit nicht für gegenwärtige Zwecke erfinden noch in den Dienst nehmen kann. Das ist seiner Meinung nach allerdings nicht so offensichtlich, wie es vielleicht scheint. Denn für viele Historiker ist die Geschichtsschreibung heutzutage tatsächlich eine Übung in angewandter Polemik. Tony Judt erklärt: „Man will etwas aufdecken, was in herkömmlichen Narrativen ignoriert wird – eine bestimmte Interpretation der Vergangenheit zurechtrücken, weil man in der Gegenwart Partei ergreifen will.“ Wenn dies ganz unverhohlen praktiziert wird, findet das Tony Judt deprimierend. Denn das ist seiner Ansicht nach Verrat an der Geschichtsschreibung, deren Aufgabe darin besteht, die Vergangenheit zu verstehen! Der britische Historiker Tony Judt lehrte in Cambridge, Oxford und Berkeley. Er starb 2010 in New York.

Ein Geschichtswerk steht und fällt mit der Plausibilität

Tony Judt fordert allerdings nicht, dass Historiker, wenn sie über die Vergangenheit schreiben, unter keinen Umständen an die Gegenwart denken dürfen. Entscheidend ist für ihn, dass die Geschichte plausibel sein muss. Tony Judt erläutert: „Ein Geschichtswerk – immer vorausgesetzt, die Fakten sind korrekt – steht und fällt mit der Plausibilität.“ Die Frage, die in einem solchen Fall immer wieder auftauchen wird, lautet natürlich: Wer entscheidet darüber, ob etwas plausibel ist oder nicht?

Tony Judt weist auch darauf hin, dass die Geschichtsschreibung eine kollektive wissenschaftliche Unternehmung ist, die auf wechselseitigem Vertrauen und Respekt beruht. Nur gut informierte Leser können beurteilen, ob ein Geschichtswerk etwas taugt. Tony Judt räumt ein, dass es sich dabei auch um etwas Gefühlsmäßiges handelt. Zudem glaubt er, dass die Historiker, von den besten abgesehen, heutzutage in zweifacher Weise verunsichert sind. Erstens ist ihnen nicht mehr eindeutig klar, wohin ihr Fach gehört – zu den Geisteswissenschaften oder zu den Sozialwissenschaften?

Schlechten Monographien fehlt es an intellektuellem Selbstbewusstsein

Der bei den Historikern vorherrschende Minderwertigkeitskomplex erklärt laut Tony Judt recht gut, warum die heutigen Geschichtswissenschaftler so viel von Theorien, Modellen und Systemen sprechen. Denn das verschafft ihnen die Illusion, scheinbar über wissenschaftliche Strukturen zu verfügen, über Regeln und Methoden. Der kritische Ansatz von Historikern bedeutet seiner Meinung nach oft nichts anderes, dass man den Kollegen ein bestimmtes Etikett anheftet oder auch nicht.

Tony Judt sagt: „Anderen kann man Parteilichkeit vorwerfen, während man selbst vor dieser Gefahr natürlich gefeit ist – deswegen die große Mühe, mit der demonstriert wird, wie selbstkritisch man ist.“ Und so entstehen dann kaputte Monographien, die mit langatmigen Thesen über den dekonstruktiven Forschungsansatz beginnen und enden. Aber der Mittelteil ist ganz empirisch, wie jedes gute Geschichtswerk. Solche Bücher kann man laut Tony Judt kaum lesen. Zudem fehlt es ihnen an intellektuellem Selbstbewusstsein.

Von Hans Klumbies