Ohne Vielfalt gibt es keine Alternativen

Vielfalt ist eine Bereicherung von Freiheit. Wenn es keine Vielfalt gäbe, hätten die Menschen keine Alternativen, zwischen denen sie wählen könnten. Doch das Leben mit einer solchen Vielfalt der Unterschiede hat auch seine Schwierigkeiten. Denn viele wollen vielleicht gerne wieder mehr „unter ihresgleichen“ leben. Das Problem ist nichts Neues. Die Kombination von Massenmigration und Internet hat zu einer atemberaubenden Zunahme der sichtbaren Vielfalt, sowohl materiell auf den Straßen der Weltstädte als auch virtuell auf den Seiten des Internets, geführt. Timothy Garton Ash ergänzt: „Wie nicht anders zu erwarten, geht es in einigen der heftigsten Konflikte um die Meinungsfreiheit um die Frage, wie Menschen sich in Bezug auf solche Unterschiede ausdrücken.“ Timothy Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University.

Aus lauter gleichen Menschen entsteht kein Staat

Timothy Garton Ash fordert eine Mischung aus Offenheit und robuster „Zivilität“. Zivilität ist dabei ein breiter Begriff. Er hängt mit den Wörtern für zivilisiert und Zivilisation zusammen und hat gemeinsame Wurzeln mit City. Zivilität ist vor allem in einer Großstadt erforderlich, weil dort verschiedene Arten von Menschen zusammenleben. Aristoteles schrieb in seiner „Politik“ über das Wesen des Stadtstaats oder der Polis, dass diese „nicht bloß aus mehreren, sondern aus verschiedenartigen Menschen“ bestehe.

Aristoteles fährt fort: „Aus lauter gleichen Menschen entsteht kein Staat.“ Niccolò Machiavelli verwendet den Begriff „civilitá“, um die bürgerliche Ordnung zu bezeichnen, die in einem gut geordneten italienischen Stadtstaat herrschte. Ein Stadtstaat stützt sich auf seine Bürger. Und der amerikanische Soziologe Edward Shils bezeichnet Zivilität als „die Tugend des Bürgers“. Der englische Begriff „civility“ bedeutet wie Zivilität nicht nur Höflichkeit, Etikette oder gute Sitten im engen Sinne. Montesquieu dagegen unterscheidet zwischen Manieren, die das „äußere“ Verhalten bestimmen, und Sitten, die das „innere“ Gebaren ausmachen.

Zivilität ist die Achtung vor der Würde anderer Personen

Nachdem er die Chinesen für ihre Zivilität gepriesen hat, schreibt Montesquieu: „Die Zivilität ist der Höflichkeit in dieser Beziehung vorzuziehen. Die Höflichkeit schmeichelt den Lastern anderer. Und die Zivilität verhindert, dass wir unsere eigenen zur Schau tragen.“ Zivilität geht also tiefer als Manieren im konventionellen Sinne. Sie ist eine Eigenschaft der Zivilgesellschaft. Edward Shils definiert diese als „eine Gesellschaft der Zivilität, was den Umgang betrifft, den ihre Mitglieder miteinander pflegen.“ Dabei ist Zivilität eine kühle Tugend, die weder Wärme noch Freundschaft erfordert.

Zivil ist außerdem das Gegenteil von militärisch oder gewalttätig. Laut Erasmus von Rotterdam und anderen sollten die Europäer „Zivilität“ praktizieren. Das ist besser, als einander in dynastischen, aristokratischen und sektiererischen Kämpfen zu töten. In einer anderen Formulierung sagt Edward Shils, Zivilität sei „Achtung vor der Würde anderer Personen und ihrem Wunsch, Würde zu besitzen.“ Die Begriffe Achtung und Würde führen zu einer These des israelischen Philosophen Avishai Margalit. Er behauptet, eine anständige Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass dort Menschen nicht gedemütigt werden. Quelle: „Redefreiheit“ von Timothy Garton Ash

Von Hans Klumbies