Viele halten die Religion für etwas Besonderes

Während des größten Teils der Menschheitsgeschichte hatten die Menschen das Gefühl, dass Religion und freie Meinungsäußerung in einem Spannungsverhältnis standen. Und dem größten Teil der Menschheit geht das auch heute noch so. Timothy Garton Ash weiß: „Bei den Kämpfen um die Meinungsfreiheit in Europa und Nordamerika des 17. und 18. Jahrhunderts war ein zentrales Anliegen die Freiheit, verschiedene Religionen predigen und praktizieren zu können.“ Erstaunlicherweise stehen bei vielen europäischen Ländern immer noch Blasphemievergehen im Strafgesetzbuch. Allerdings ahndet man sie nur selten. In Russland und Polen verurteilt man freilich Menschen wegen der „Verletzung religiöser Gefühle“. Irland führte im Jahr 2009 den Strafbestand der blasphemischen Verunglimpfung wieder ein. Timothy Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University.

Jeder kann seine Religion ändern

In vielen muslimischen Ländern sind sowohl Blasphemie als auch der Übertritt zu einer anderen Religion im Strafrecht mit hohen Strafen belegt. Außerdem erlebt man dort immer wieder, dass beleidigte Gläubige das Recht in die eigenen Hände nehmen. Außer dem Veto des Zwischenrufers und dem des Mörders gibt es auch noch das Veto des Fanatikers. Und das ist grenzüberschreitend. Ein praktischer Grund, die Religion besonders zu behandeln, könnte vielleicht darin liegen, dass ein großer Teil der Menschheit offenbar der Ansicht ist, dass sie es verdient.

Timothy Garton Ash vertritt die These, dass die Religion weniger Schutz genießen sollte als unveränderliche Merkmale des Menschen wie Hautfarbe oder Geschlecht. Denn es existiert kein rationales Argument dagegen, dass eine Person eine schwarze, braune oder weiße Haut hat, und kein Mensch kann seine Hautfarbe ändern. Im Gegensatz dazu gibt es viele rationale Argumente gegen die Lehrsätze jeder Religion. Und jeder kann seine Religion ändern. Gegen dieses Argument steht jedoch die Tatsache, dass keine Religion auf ihren Satz von Behauptungen reduziert werden kann.

Religionen zeichnen besondere Gepflogenheiten aus

Timothy Garton Ash erläutert, dass die meisten Religionen diverse Behauptungen aufstellen. Aber keine besteht nur aus einer einzigen. Sie zeichnen sich auch durch Rituale, Kleider, Musik, Architektur, Benimm- und Speisevorschriften, besondere Feste und gemeinsam Gepflogenheiten aus. Deshalb beschreibt man sie besser als umfassende Lebensformen. Der Philosoph Leszek Kolakowski schreibt: „Religion ist nicht eine Menge von Behauptungen […] sondern eine Lebensweise. Bei dieser treten Verstehen, Glauben und Engagement zusammen in einem einzigen Akt auf.“

Leszek Kolakowski fährt fort: „Deshalb bewahrt man die religiöse Wahrheit in der Kontinuität der kollektiven Erfahrung und gibt sie weiter.“ Und er zitiert Alexander Safran, im 20. Jahrhundert Oberrabbiner von Genf. Dieser vertrat die Ansicht, dass die Torah nur durch die Teilnahme am Leben des jüdischen Volkes verstanden werden könne. Leszek Kolakowski fügt hinzu: „Sinn entsteht durch Akte der Kommunikation und muss in diesen Akten immer wieder neu geschaffen werden.“ Außerdem steht die Religion in einem Spannungsverhältnis zu den Argumenten des säkularen Liberalismus für die Redefreiheit. Denn sie hat im Allgemeinen sowohl zur Freiheit als auch zur Rede ein anderes Verhältnis als dieser. Quelle: „Redefreiheit“ von Timothy Garton Ash

Von Hans Klumbies