Autoritäre und totalitäre Regime sind paternalistisch

Der amerikanische Rechtsphilosoph Joel Feinberg schrieb ein maßgebliches Werk über die Rechtfertigungen für die Einschränkung der Redefreiheit durch das Strafrecht. Für Timothy Garton Ash ist sein Buch eine gute Grundlage, um darüber nachzudenken, mit welchen Mitteln, vom härtesten Gesetz bis zur weichsten Norm, die freie Meinungsäußerung legitimerweise beschränkt werden darf. Die ersten vier Rechtfertigungen, denen er je einen ganzen Band widmet, lauten: Schaden für andere, Beleidigung anderer, Schaden für die eigene Person und harmloses Fehlverhalten. Joel Feinberg beschreibt Versuche, die beiden Letzteren vom gesetzlichen Paternalismus und gesetzlichem Moralismus abzugrenzen. Gesetzlicher Paternalismus bedeutet, dass sich der Staat wie ein Vater zu seinen Kindern verhält und versucht, seine Bürger davon abzuhalten, sich selbst zu schaden. Der britische Zeitgeschichtler Timothy Garton Ash lehrt in Oxford und an der kalifornischen Stanford University.

Theokratien haben eine moralische Haltung

Gesetzlicher Moralismus bedeutet, dass der Staat das Gesetz benutzt, um die nach seinem Verständnis wahre Moral durchzusetzen. Heutzutage konzentrieren sich westliche Debatten über Redefreiheit auf die beiden ersten Kategorien von Joel Feinberg: Schaden für andere und Beleidigung anderer. Dennoch sollte man nicht vergessen, dass in einem Großteil der Geschichte des Westens sowohl der Paternalismus als auch der Moralismus bei der Beschränkung der Redefreiheit eine gewaltige Rolle spielten und dass dies in einem großen Teil der Welt immer noch der Fall ist.

Timothy Garton Ash erläutert: „Die Haltung vieler autoritärer und aller totalitären Regime ist durch und durch paternalistisch. Wir wissen, was das Beste für euch ist, sagen diese Staaten zu ihren Bürgern.“ Sie behandeln sie wie Kinder und nicht wie Immanuel Kants aufgeklärte Erwachsene. Staaten, die sich mit einer einzigen dominanten Religion oder einem Moralkodex identifizieren, wie dies insbesondere bei Theokratien der Fall ist, haben eine moralische Haltung. Sie lautet: Du darfst das nicht ausdrücken oder ausgedruckt sehen oder hören, weil es der wahren Moral widerspricht.

Bei Beleidigungen kann es zu Einschränkungen der Meinungsfreiheit kommen

Viele heutige Liberale vertreten allerdings die Ansicht, dass die freie Meinungsäußerung nicht eingeschränkt werden sollte, weil sich jemand beleidigt fühlen könnte. Dennoch überschreiten ernsthafte moderne Liberale, einschließlich John Stuart Mill, laut Joel Feinberg diese scheinbar so klar gezogene Grenze und räumen ein, dass gewisse Beschränkungen auch dann berechtigt sein könnten, wenn etwas nur beleidigend und nicht eindeutig schädlich ist. Der ultimative Schaden ist sicherlich die unnatürliche Beendigung eines Menschenlebens.

Wer würde der Aussage widersprechen, dass Äußerungen, die zu einem Mord führen, verboten sein sollten? Aber wie kann man wissen, welche Äußerungen zu einem Mord führen? Es kommt dabei ganz auf den Zusammenhang an. Timothy Garton Ash stellt klar: „Ein und dasselbe Wort oder Bild können in einem Kontext völlig harmlos sein und in einem anderen tödlich. Deshalb muss man auf die Zeit, die Art, den Ort und das Medium der Äußerung achten, eine Übung, die dadurch erheblich kompliziert wird, dass das Internet sowohl die Zeit als auch den Raum verkürzt. Quelle: „Redefreiheit“ von Timothy Garton Ash

Von Hans Klumbies