Timothy Garton Ash schreibt: „Ist Europa also in Vielfalt geeint? Ja, aber auch geteilt in seinen tiefsten Gemeinsamkeiten. Das gilt auch für seine Imitationen Roms. Diese Europa prägende Gewohnheit begann unmittelbar nach dem, was man gemeinhin den Untergang des Römischen Reiches nennt.“ Im Jahr 500 n. Chr. stattete der gotische Kriegerkönig Theoderich von seiner eigenen Hauptstadt Ravenna aus – dem damaligen Hauptquartier der Armee des Römerreichs – Rom einen triumphalen Besuch ab. Er machte zunächst an der Kirche St. Peter Station, wo sich das Grab des Anführers der Apostel Christi befand, und wandte sich dann an den immer noch existierenden römischen Senat und versprach, er werde mit Gottes Hilfe alles unverbrüchlich bewahren, was römische Herrscher der Vergangenheit angeordnet hätten. Timothy Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University.
Das Heilige Römische Reich bestand tausend Jahre
Es folgten eine Art kaiserlicher Triumphzug, Zirkusspiele fürs Volk und die Verteilung von Lebensmitteln – also im sprichwörtlichen Sinne „Brot und Spiele“. Timothy Garton Ash fügt hinzu: „Dreihundert Jahre später, im Jahr 800 n. Chr., wurde ein fränkischer Kriegerkönig, Karl der Große, vom Papst in Rom zum Kaiser gekrönt, womit bekräftigt wurde, dass das wahre „zweite Rom“ seinen Sitz im Westen und nicht in Konstantinopel hatte.“ Daraufhin ließ Karl der Große in seinen Siegelring die Worte „Renovatio imperii Romanorum“, Erneuerung des Römerreichs, eingravieren.
Das war der Beginn des Heiligen Römischen Reiches, vermutlich des am meisten unterschätzten Staatswesens der europäischen Geschichte. Timothy Garton Ash weiß: „Adolf Hitler brüstete sich damit, sein Reich werde ein „Tausendjähriges“ sein, doch während sein „Drittes Reich“ nicht einmal dreizehn Jahre währte, hielt dieses erste Reich tatsächlich tausend Jahre und fand erst 1806 sein endgültiges Ende, als Franz II., der letzte Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, abdankte und fortan nur noch Kaiser Franz I. von Österreich war.“
Der Aachener Dom wurde um 800 fertiggestellt
Voltaire witzelte mit der Klugheit eines Zeitungskolumnisten, dass es weder heilig noch römisch noch ein Reich war. Doch für die meisten seiner Untertanen war es jahrhundertelang genau das. Timothy Garton Ash stellt fest: „Von der Mystik des Heiligen Römischen Reiches kann man noch heute etwas spüren, wenn man ein Hochamt in der Kirche Karl des Großen in Aachen besucht, wie ich das erstmals 2017 erleben durfte.“ Nähert man sich dem Dom über einen schmalen Innenhof, fallen einem die alten römischen Steine auf, die in der hohen Mauer zur Linken wiederverwendet wurden.
Betritt man das Gebäude durch die prächtigen bronzenen Torflügel des Hauptportals aus der Zeit um 800, schießt einem sogleich der Gedanke durch den Kopf, dass Karl der Große selbst durch diese Türen gegangen sein muss. Timothy Garton Ash ergänzt: „Vorbei an der Statue einer Wölfin aus dem 3. Jahrhundert v. Chr., die Romulus und Remus bei der mythischen Gründung Roms gesäugt haben könnte, gelangt man in die ursprüngliche Kirche, die ebenfalls um 800 fertiggestellt wurde.“ Quelle: „Europa“ von Timothy Garton Ash
Von Hans Klumbies