Deutschland fehlen die europäischen Partner

Timothy Garton Ash lobt Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Bundesregierung, dass Deutschland gleich in zwei Krisen Führungsverantwortung übernommen hat. Erstens in der Ukraine. Wenn es überhaupt eine westliche Politik gegenüber Russland gab, dann war es eine deutsch-polnisch-französische. Aber vor allem deutsch und damit natürlich Angela Merkel. Timothy Garton Ash fügt hinzu: „Zweitens und unbestritten in der Flüchtlingskrise. Für mich als Historiker ist es unheimlich ergreifend, dass für diese armen Menschen aus dem Nahen Osten Deutschland das gelobte Land ist.“ Aber was Deutschland und damit der Kanzlerin fehlt, sind die europäischen Partner, denn Deutschland kann die Krisen nicht alleine meistern. Das ist ein klassisches geschichtliches Problem. Timothy Garton Ash lehrt in Oxford europäische Geschichte und ist einer der angesehensten politischen Kommentatoren aus Großbritannien.

Deutschland muss eine „Koalition der Willigen“ bilden

Timothy Garton Ash erklärt: „Deutschland ist das größte und mächtigste europäische Land einerseits. Und doch nicht groß genug andererseits. Deutschland kann in dieser Frage kein Hegemon sein. Selbst die integrationsfähigsten Nationen der Welt, Kanada oder die USA, wären nicht in der Lage, binnen eines Jahres ein Prozent der Gesamtbevölkerung zu integrieren.“ Dennoch muss die deutsche Politik eine Führungsrolle übernehmen. Sie muss Koalitionen bilden, nicht allein mit Frankreich. Timothy Garton Ash nennt das ganz bewusst „Koalition der Willigen“.

Zur Führungsstärke gehört für Timothy Garton Ash allerdings noch etwas: eine Politik, die über die „soft power“ – also die reine Wirtschaftskraft hinausgeht. Er zielt auch auf „hard power“, das Militärische. Wenn es um die Sicherung der Grenzen der Europäischen Union geht oder um die Beziehung zu Russland, muss man seiner Meinung nach mindestens die Bereitschaft zeigen, „hard power“ zu erwägen. Timothy Garton Ash fügt hinzu: „Der durchgehende Pazifismus kann nicht der richtige Schluss aus der deutschen Vergangenheit sein.“

Deutschland ist die Zentralmacht Europas

Niemand würde allerdings erwarten, dass Deutschland die militärische Führung übernimmt. Deswegen braucht es Frankreich und Großbritannien. Aber Timothy Garton Ash sagt noch einmal: „Man soll diese Dimension der Macht nicht verteufeln. Denn wenn man mit Menschenschmugglern, Putin und dem Islamischen Staat zu tun hat, muss man auch an harte Bandagen denken. Das würde den Deutschen im Übrigen niemand verübeln.“ Deutschland ist für alle sichtbar und eindeutig – und zwar auch für Amerikaner und Chinesen – die Zentralmacht Europas.

Die Flüchtlingskrise ist auch eine Chance. Deutschland ist ein reiches Land und kann das wirtschaftlich schaffen. Die Frage ist für Timothy Garton Ash vielmehr, ob man es auch kulturell und gesellschaftlich schafft. Denn es braucht fraglos eine enorme kulturelle Anstrengung, um diese Menschen zu integrieren. Aber das sind junge motivierte Leute, die nach Deutschland strömen. Langfristig wird das sehr gut sein. Was Timothy Garton Ash allerdings beunruhigt sind Dresden und Pegida. Aber das ist keinesfalls nur ein deutsches Problem, sondern ein europäisches – der Aufschwung der Xenophobie. Quelle: Stern

Von Hans Klumbies