Sensationsgier in den Medien ist verwerflich

Massenmedien verhandeln über Schuld. Sie tun das in unmittelbarer Weise in unzähligen Formen der Darstellung. Das Bild krimineller Handlungen ist viel mehr als früher kommunikativ und nicht durch persönliches Erleben bestimmt. Die neue, scheinbar neutrale Informationstechnologie, zeichnet sich durch eine praktisch verzögerungsfreie Gleichzeitigkeit aus. Die Auffächerung der öffentlichen Kommunikation über Identität, Gefahr und Sicherheit ist nicht neu und verwunderlich. Thomas Fischer stellt fest: „Sie ist eine Grundbedingung der menschlichen Zivilisation.“ Man sollte daher nicht fordern, die Mechanismen von Verstärkung, Gerüchten, Verzerrung, Sensationalisierung und kommunikativer Dramatisierung abzuschaffen. Es ist für Thomas Fischer aber verwerflich und verantwortungslos, sie gezielt zu verstärken oder gar erst zu erzeugen. Betroffenheit muss zuerst jeweils erst hergestellt werden, indem Nähe suggeriert und imaginiert wird. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

Ein Kriminalfall kann stets etwas anderes sein

Kenntnis oder Vertrautheit beruhen durchweg auf medialen Berichten und deren vielfach abgeleiteten Verwertungen. Die Bedingungen dessen, was man Betroffenheit nennt, haben sich dramatisch verändert. Das haben die Medien weder verstanden noch berücksichtigt. Pro Tag erreichen heute den Bürger, hundert oder tausend grauenhafte Ereignisse, die als „Kriminalfälle“ gedeutet werden. Diese können stets aber auch etwas anderes sein: Schicksal, Vorboten des Untergangs, Folgen von Versagen, Pornografie oder Lüge.

Die Vorstellungen vom Zustand der Gesellschaft, der Sicherheitslage anerkannter Rechtsgüter und die Wirkung formeller Sozialkontrolle durch das Strafrecht sind von persönlichen Erfahrungen in erheblichen Maß abgetrennt. Umgekehrt werden diese Erfahrungen in außerordentlich hohem Maß und radikal beschleunigten Zeiterleben durch öffentlich-mediale Kommunikation gesteuert und geprägt. Die Probleme der Ungleichzeitigkeit zwischen Stadt und Land, Modernität und Rückständigkeit haben dadurch unendlich zugenommen. Sie bilden eine eigene, gerne virtuell genannte Wirklichkeit und Kommunikation.

In den Medien erscheint die Schuld als undefinierbar

Die Kommunikationsindustrie weiß das alles selbstverständlich. Sie verschweigt und benutzt es aber, weil sie daraus wirtschaftlichen Gewinn erzielt. Die Industrie der Berichterstattung verwendet Worte wie Betroffenheit, Opfer, Mitleid, Empathie, Schicksal und Schuld. Sie dienen als Trigger-Botschaften an soziale und individuelle Bedürfnisse und emotionale Gestimmtheit. Zugleich steuern sie zielgerichtet soziale Definitionsmuster und rechts-politische Interessen. Die „Schuld“ als zentraler Grundbegriff der neuzeitlichen Vorstellung vom Strafen verliert in diesem Nebel jede begriffliche Kontur.

In der medialen Darstellung wird Schuld zu einer undefinierbaren Mischung aus Beweis, Zumutung, persönlichem Versagen und vagen Zuweisungen von Verantwortung an beliebig erscheinende Institutionen, Strukturen oder Personen. Das kann ein grausamer Vater sein, eine abwesende Mutter, eine schlechte Schule. Im nächsten Fall kenn es eine sogenannte Traumatisierung durch sexuellen Missbrauch sein, und so weiter. Und im übernächsten Fall spielt das alles keine Rolle, weil man sich gefälligst zusammenzunehmen hat, schon dreimal vorbestraft ist, und wo kämen wir denn da hin. Quelle: „Über das Strafen“ von Thomas Fischer

Von Hans Klumbies