Verhalten, das von einer in einer Gesellschaft jeweils gegebenen Norm abweicht, wird „negativ sanktioniert“. Das heißt mit ablehnenden, unangenehmen, auch ausgrenzenden Handlungen beantwortet. Umgekehrt wird normkonformes Verhalten „positiv sanktioniert“, also mit Zustimmung, Anerkennung oder sozialen Vorteilen belohnt. Das erscheint den meisten Menschen im Alltagsleben selbstverständlich, da der Grundsatz auf einer tiefen, naturnahen Ebene des Lebens angesiedelt ist. Thomas Fischer erläutert: „Er hängt unmittelbar mit der Normativität des Denkens und dem Verhältnis von Erwartungen und Vertrauen zusammen.“ Wie die Normativität ist auch die Sanktionierung von einer Vielzahl von Voraussetzungen abhängig. Die wichtigste ist, das die Personen, die Sanktionen vollziehen, auch die soziale Macht haben, solche Handlungen zu definieren. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.
Hüter der Regelhaftigkeit können sich in egozentrische Rechthaber verwandeln
Sanktionen sind nicht zwingend mit Normativität verbunden. Nicht jede Normerfüllung wird mit ausdrücklichem Lob, nicht jede Normverletzung mit Zurechtweisung beantwortet. Es kommt darauf an, wie der Mensch – und die Gesellschaft – mit normativen Enttäuschungen der Erwartung umgeht. Dafür gibt es grundsätzlich drei Varianten. Erstens kann man die Erwartung aufgeben. Zweitens kann man sie folgenlos beibehalten und drittens kann man sie durchsetzen oder dies versuchen.
Wenn man jede individuelle Enttäuschung zum Anlass einer Skandalisierung nähme, um einen Abweichler zu sanktionieren, würde sich die Gesellschaft in einem Overkill von Querulanz lähmen. Daher gelten Personen, die ständig Sanktionen fordern, nicht als Hüter der Regelhaftigkeit, sondern als egozentrische „Rechthaber“, also ihrerseits als sanktionsbedürftige Abweichler. Manchmal dient eine Bestrafung gar nicht mehr der Regeldurchsetzung im konkreten Fall, sondern der Demonstration der Entschlossenheit, an der Erwartung der Regeleinhaltung festzuhalten. Mit dieser Erwägung ist man mitten in der Vermischung von Rache und Regelbestätigung, Strafe und Prävention.
Rache erhält vielfach einen spiegelnden Charakter
Das Bedürfnis nach Rache ist eine tief in der menschlichen Natur verankerte Emotion. Die Rache zählt zu den häufigen und gewichtigen Motiven für aggressives Verhalten. Dabei wird das Motiv der Rache von vornherein mit anderen Motiven vermischt. Thomas Fischer erklärt: „Es ist intellektuell mit normativen Vorstellungen von Gerechtigkeit verbunden, wodurch Rache vielfach einen spiegelnden Charakter erhält.“ „Mit gleicher Münze“ wird heimgezahlt, und häufig mit einer dem Angriff entsprechenden Aktion – zum Beispiel Blutrache – die auf Ausgleich von Unrecht zielt.
Damit ist aber bereits eine Ebene erreicht, die auf Regelhaftigkeit abstellt und daher substantiell gesellschaftlich ist. Die Rache, die man heute als besonders gefährliche oder hochkriminelle Form der Sanktionierung betrachtet, hat sich von der subjektiven Wut und Aggression weit entfernt und gehört eigentlich zu einer Ebene von Recht. Was viele Menschen als besonders verwerflich wie beispielsweise die Blutrache ansehen, ist nicht ein Rückfall vom Recht in vorrechtliche Aggression, sondern die Postulation einer eigenen, abweichenden Legitimität. Quelle: „Über das Strafen“ von Thomas Fischer
Von Hans Klumbies