Der Mensch bleibt von Gott und der Idee getrennt

Die Bibel verrät seinen Lesern, dass Gott den Menschen als sein Ebenbild geschaffen hat. Der Mensch ist also „imago dei“. Man könnte meinen, er könnte sich erkennen, indem er das betrachtet, wovon er Abbild ist. Unglücklicherweise ist aber ihm das genau nicht möglich, denn in den Zehn Geboten ist unmissverständlich festgehalten, dass sich der Mensch kein Bild von Gott machen darf. Thomas Damberger geht davon aus, dass es sich bei dem Bilderverbot nicht um Bösartigkeit handelt. Denn es geht nicht darum, dass ein Gott seiner Schöpfung die Selbsterkenntnis verwehrt. Thomas Damberger erklärt: „Vielmehr ist es so, dass der Mensch sich in diesem Bild gar nicht erkennen könnte, denn sowohl Gott als auch die Idee bei Platon sind im Gegensatz zum Menschen in einem anderen Seinsmodus.“ Dr. Thomas Damberger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

In der Seele des Menschen liegt ein göttlicher Funke

Der Mensch ist entstanden, er wurde geboren, wächst heran, wird alt und vergeht. Für Gott und die Idee gilt das nicht. Eine Idee „wird“ nicht, sie verändert sich nicht und sie vergeht nicht. Gott und die Idee sind jenseits des Werdens, und sie sind immerdar. Thomas Damberger ergänzt: „Der Mensch hingegen bleibt von Gott und der Idee getrennt.“ Nichtsdestotrotz gibt es das Göttliche, Ewige und Vollkommene nicht nur außerhalb des Menschen, sondern es liegt gleichsam in ihm verborgen. Der mittelalterliche Mystiker Meister Eckhart, der in der Zeit des 13. und 14. Jahrhunderts lebte, ging davon aus, dass in der Seele des Menschen ein göttlicher Funke liegt.

Dieser Seelenfunke hat eine besondere Eigenschaft, denn er ist nicht von Gott gemacht worden und besitzt daher keinen Anfang und kein Ende. Der Seelenfunke ist – genauso wie Gott selbst – zeitlos und somit jenseits von Werden und Vergehen. Nun ist es leider aus Meister Eckharts Sicht so, dass dieser göttliche Seelenfunke zwar in jedem Menschen vorhanden ist, zugleich allerdings verborgen liegt. Es ist daher die Aufgabe des Menschen, den Seelenfunken zu entbergen und damit das, was der Mensch eigentlich, also seinem Wesen nach ist, zum Vorschein kommen zu lassen.

Der Mensch sollte seinen Egoismus und Egozentrismus aufgeben

Das aber gelingt nur, wenn der Mensch seine Verfallenheit an die Welt, sprich: seine Vielbeschäftigtkeit aufgibt. Thomas Damberger fügt hinzu: „In gleichem Maße gilt das für die Verfallenheit an sich selbst, womit der Egoismus und Egozentrismus gemeint sind. In beiden Fällen ist die Seele nämlich von Bildern überlagert. Eben diese Bilder gilt es nun loszuwerden.“ Der Mensch soll sich laut Meister Eckhart von allem Kreatürlichen, allem Nicht-Göttlichen befreien, damit der Seelenfunke zum Vorschein kommen und sich ausbreiten kann.

In gewisser Weise geht es darum, dass der Mensch zur leeren Leinwand, zu einer Art „tabula rasa“ wird, in die sich Gott hineinbilden kann. Und genau dadurch soll eine Einheit mit Gott erreicht werden. Im Leben selbst wird diese Einheit – eben aufgrund der Körperlichkeit des Menschen – nicht auf Dauer möglich sein. Und dennoch soll der Weg beschritten werden. Für den Humanisten Pico della Mirandolo, der in der Zeit der Renaissance lebte, besteht die besondere Würde des Menschen darin, dass Gott den Menschen als ein unfertiges, abgeschlossenes Wesen geschaffen hat. Er wurde mit der einzigartigen Fähigkeit ausgestattet, sich selbst nach seinem eigenen Willen und seinen eigenen Vorstellungen gestalten, also bilden, zu können. Quelle: „Neue Menschen!“ von Konrad Paul Liessmann (Hrsg.)

Von Hans Klumbies