Eine Kultur lässt sich nicht planen

Terry Eagleton stellt fest: „Wenige Denker dürften den Eindruck vermitteln, der romantischen Volkskultur ferner zu stehen als der so aristokratisch wirkende T. S. Eliot.“ Für ihn bedeutet das Wort „Kultur“ in erster Linie das sozial Unbewusste. Es bezeichnet „die Gesamtform, in der ein Volk lebt – von der Geburt bis zum Grabe, vom Morgen bis in die Nacht und selbst im Schlaf“, doch handelt es sich um eine Lebensweise, deren sich die Menschen nie ganz bewusst sein können. Eine Kultur, fährt T. S. Eliot fort, „kann nie völlig eine Sache des Bewusstseins werden – unser bewusstes Leben erschöpft sich nicht; und sie lässt sich nicht planen, weil sie ja auch der unbewusste Untergrund all unseres Planens ist“. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

Viele Menschen können keinen vernünftigen Gedanken fassen

In der Terminologie von Martin Heidegger heißt das: Kultur repräsentiert jene Vorverständnisse oder ursprünglichen Orientierungen in der Welt, die das Denken und Handeln eines Menschen überhaupt erst ermöglichen. In der Redeweise von Jacques Lacan ist die Kultur das Feld des Anderen, auf dem die Emergenz jedes spezifisch anderen zu beobachten ist. Terry Eagleton hält fest, dass hier ein Übergang stattgefunden hat von T. S. Eliots Behauptung, Kultur lasse sich niemals ganz bewusst machen, zu der These, sie lasse sich niemals planen.

Es mag überraschen, dass T. S. Eliot, ein anglo-katholischer Konservativer, der die große Mehrheit der Menschheit für unfähig hält, einen vernünftigen Gedanken zu fassen, sich selbst als überzeugter Anhänger einer gemeinsamen Kultur outet. Dies erscheint weniger merkwürdig, wenn man sich klarmacht, dass eine gemeinsame Kultur seiner Ansicht nach keineswegs eine egalitäre Kultur ist. Alle Bürger haben an der gleichen Lebensform teil, tun es aber auf bemerkenswert ungleiche Weise. Ein und dieselbe Kultur wird vom gemeinen Volk unbewusst, von der Minderheit hingegen bewusst gelebt.

Gewöhnliche Menschen reflektieren nicht über sich selbst

Terry Eagleton erläutert: „Eine Gruppe von Intellektuellen reflektiert über fundamentale Wahrheiten, während die große Mehrheit von Männern und Frauen irgendeiner Version dieser Werte anhängt, ohne sich bewusst zu sein, dass sie es tut. Stattdessen lebt sie sie spontan aus, in ihrem alltäglichen Verhalten wie in ihren Sitten und Bräuchen.“ In der Tat erscheint diese unbewusste Form einer kultivierten Lebensweise zwangsläufig, wenn gewöhnliche Menschen ohne die Fähigkeit zu einer gewissen Selbstreflexion nach geistigen Werten leben.

Verwirrenderweise ist Kultur sowohl die reflektierteste Form des Wissens als auch ein Wissen, bei dem man nicht zu wissen braucht, dass man weiß. Wie man ein Bluter sein kann, ohne sich dessen bewusst zu sein, so kann man auch äußerst kultiviert sein, ohne es im Mindesten zu ahnen. Es kann nach T. S. Eliot allerdings mitnichten darum gehen, die Werte der Minderheit bewusst in der Bevölkerung zu verbreiten, denn „wenn wir einen jeden dazu bringen wollen, dass er an den Früchten des bewussten Teils der Kultur Anteil hat und Geschmack findet, so verfälschen und vergröbern wir das, was wir geben“. Quelle: „Kultur“ von Terry Eagleton

Von Hans Klumbies