Die Begriffe Kultur und Zivilisation sind mehrdeutig

Es mag den Anschein haben, als sei Kultur eine Frage der Werte und Zivilisation eine Sache der Gegebenheiten, doch jeder der beiden Begriffe lässt sich normativ und deskriptiv verwenden. Terry Eagleton erklärt: „Das Wort >ganz< in dem Ausdruck >eine ganze Lebensweise< kann deskriptiv >vollständig< bedeuten, aber auch normativ >vereinigt<, >ganzheitlich<, >ohne Mangel<.“ Wenn der Anthropologe Edward Burnett Tylor im 19. Jahrhundert Kultur und Zivilisation definiert als „jenen Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und allen übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, welche der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat“, spricht er deskriptiv. Wenn der Dichter Henry James Pye im 18. Jahrhundert in seinem Gedicht „The Progress of Refinement“ schreibt: „Auf dem afrikanischen Schwarz zeigt sich keinerlei Kultur“, versteht er das als Wertung. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

Das Wort „Natur“ ist ein Gegenbegriff zur Kultur

Mahatma Gandhis legendäre Antwort auf die Frage, was er von der britischen Zivilisation halte – „Ich denke, sie wäre eine gute Idee“ –, gleitet hintersinnig vom Begriff der Zivilisation als Tatsache zu dem der Zivilisation als Wert. Terry Eagleton schreibt: „In gewissem Sinne ist Folter kein zivilisiertes Verhalten, doch in einem anderen Sinne ist sie es durchaus, da eine ganze Menge Zivilisationen sie praktizieren. Nur zivilisierte Menschen können Sprenggelatine auf Kinderspielplätzen zünden.“ Das Werk von T. S. Eliot ist exemplarisch für diese Mehrdeutigkeiten.

Manchmal verwendet T. S. Eliot das Wort „Kultur“ deskriptiv und meint damit: „die Lebensform eines bestimmten Volkes in einem bestimmten Lebensraum.“ Kultur ist nach seiner Auffassung manchmal eine Frage der Sitten, der Religion, der Künste und der Ideen und manchmal das, „was die Gesellschaft zur Gesellschaft macht“. Das Wort „Natur“, das nur ein weiterer Gegenbegriff zur Kultur ist, enthält eine ähnliche Mehrdeutigkeit. Man hat die Natur als eine Oase der Ruhe gepriesen, in der man Schutz vor den Umtrieben der Zivilisation finde, aber man kann das ebenso umgekehrt sehen.

Als Idee bringt die Zivilisation das Materielle und das Geistige zusammen

Die Zivilisation ist bestrebt, eine ungezähmte Natur mit einem Mindestmaß an Bedeutung zu versehen. Der slowenische Philosoph und Kulturkritiker Slavoj Žižek meint: „Natur ist verrückt. Natur ist chaotisch. Natur neigt zu wilden, unvorhersehbaren und sinnlosen Katastrophen, wir sind ihren Launen gnadenlos ausgeliefert – es gibt keine „Mutter Erde“ … Ich glaube nicht an eine natürliche Ordnung. Natürliche Ordnungen sind katastrophal.“ Für Slavoj Žižek liegt das Problem nicht darin, dass die Natur unwandelbar, sondern dass sie zu unbeständig ist.

Als Idee bringt die Zivilisation das Materielle und das Geistige zusammen. Sie sagt den Menschen, dass es viele ansehnliche Gebäude, kluge Einrichtungen und durchdachte Organisationen gibt, während sie den Menschen gleichzeitig weismachen will, all dies käme auch ihrem moralischen Wohl zugute. Terry Eagleton schreibt: „Der Zivilisationsbegriff ist unter anderem ein Urteil über Menschen, die das Pech haben, nicht über öffentliche Bibliotheken, Zentralheizung, Charlie Sheen oder Cruise Missiles verfügen. Stattdessen leben sie in einer sogenannten Kultur, was bedeutet, dass sie in ihrer Entwicklung noch nicht das Stadium erreicht haben, in dem man Anzüge oder Röcke trägt.“ Quelle: „Kultur“ von Terry Eagleton

Von Hans Klumbies