Philosophen bewerten die Kunst sehr unterschiedlich

Zahlreiche Philosophen haben der Kultur in der Bedeutung von Kunst höchsten Wert beigemessen. Doch nicht jeder große Denker folgte ihnen darin. Platon steht der Kunst aus politischen Gründen feindselig gegenüber und vertreibt die Dichter aus seinem Staat. Immanuel Kant, der bedeutendste moderne Philosoph, reinigt die Kunst von ihrem Inhalt und reduziert sie auf die reine Form. Terry Eagleton nennt weitere Beispiele: „Für Hegel kann die moderne Kunst nicht mehr die lebenswichtige Aufgabe erfüllen, die sie in der antiken Welt wahrnahm, und muss daher der Philosophie weichen. Jeremy Bentham, dessen utilitaristische Philosophie im 19. Jahrhundert zur herrschenden Morallehre Englands wurde, erweist sich bei ästhetischen Fragen als ausgemachter Spießer.“ Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

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Der Glaube an das Individuum ist ein kulturell tief verankerter

Thea Dorn betont, dass der Glaube ans Individuum und seine unveräußerlichen Rechte eben kein universeller, sondern ein kulturell tief verankerter und damit spezieller Glaube ist. Er nahm seine ersten Anfänge in der griechischen Philosophie und Kunst, entwickelte sich durch das Christentum und das Römische Recht, durch die Renaissance und den Protestantismus weiter, bis er in der Neuzeit, durch die hellen Köpfe der Aufklärung und die freiheitsliebenden Revolutionäre in England, Frankreich und Amerika, zum leitenden Welt- und Rechtsbild des Westens wurde. Wenn man für dieses Bild in der restlichen Welt werben will, bleibt einem nichts anderes übrig, als Ausschau nach Kulturen zu halten, in denen sich der Glaube an das Individuum und seine unveräußerlichen Rechte zumindest in Ansätzen entdecken lässt. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

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Im 17. Jahrhundert wächst der internationale Handel

Die eskalierende Ausbeutung und Verpestung der Welt ist für Philipp Blom das gegenwärtige Äquivalent zu den Hexenverbrennungen des 17. Jahrhunderts. Es ist der hilflose Aktivismus einer Zivilisation, die keine Alternative sieht. Die sich jedoch im Recht weiß, die auf vergangene Erfolge zeigt, um gegenwärtiges Handeln zu rechtfertigen. Die sich immer wieder dieselben, alten Geschichten erzählt. Diese gehen ironischerweise zurück auf die Kleine Eiszeit. Es kam zu einer Krise der Landwirtschaft. Daraus resultierten politische Verwerfungen, die zu einer Stärkung von Märkten und internationalem Handel sowie zum Ausbau der Infrastruktur führten. Erfolgreich und international gesehen war ein Staat im 17. Jahrhundert aber nur, wenn er militärisch mächtig war und Kriege führen konnte. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford.

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Freiheit gewährt niemals Herrschaft über andere

Freiheit ereignet sich stets im Rahmen der verbindlichen Gesetze. Paul Kirchhof erläutert: „Das Gesetz schafft Frieden und eine Lebensordnung, in der allein Freiheit möglich ist. Es bindet den Freien in Verboten und Geboten, die sprachlich verbindlich bestimmt sind und damit Grenzen der Freiheitsbeschränkung benennen. Diese sind auch vom Staat zu achten.“ Das Gesetz regelt, wann der Mensch frei und wann er gebunden ist. Du sollst nicht töten. Du musst mit sechs Jahren die Schule besuchen. Du musst Steuern zahlen. Freiheit ist nicht die Beliebigkeit, die den Mitmenschen den eigenen Willen aufdrängt, sondern ein Recht, das die selbstbestimmte Entfaltung des eigenen Lebens in einer Gemeinschaft des Friedens und der Freiheit für jedermann erlaubt und erwartet. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Als Richter des Bundesverfassungsgerichts hat er an zahlreichen, für die Entwicklung der Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland wesentlichen Entscheidungen mitgewirkt.

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Das Grundgesetz sichert die Menschenwürde

Das gesamte Recht in Deutschland berücksichtigt die wichtigsten Grundwerte der Gesellschaft – Menschenwürde, Menschlichkeit und die Gleichheit aller. Jens Gnisa ergänzt: „Das Grundgesetz als oberstes Gesetz sichert das allen Bürgern zu. Jedes andere Gesetz hat diese Werte zu beachten, darüber wacht das Bundesverfassungsgericht.“ Auch die Behörden haben sie bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen, ebenfalls die Gerichte, wenn sie deshalb angerufen werden. Auf jeder dieser Stufen wird als die Menschenwürde streng beachtet. Den Vorstellungen des Rechts folgend, ist nach einer rechtskräftigen und abschließenden Entscheidung gar kein Platz mehr dafür, dass gesellschaftliche Gruppen diese Ergebnisse infrage stellen. Es ist gesetzt und soweit unantastbar. Dies gilt selbstverständlich auch im Ausländerrecht. Jens Gnisa ist Direktor des Amtsgerichts Bielefeld und seit 2016 Vorsitzender des Deutschen Richterbundes.

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Die Grenzlinie zwischen Anlage und Umwelt ist stark umstritten

Theorien des menschlichen Verhaltens stützen sich auf die der menschlichen Natur: auf Regelmäßigkeiten, die sich aus der universalen menschlichen Biologie ergeben, im Gegensatz zu denen, die in den Normen oder Bräuchen der verschiedenen menschlichen Gemeinschaften wurzeln. Francis Fukuyama fügt hinzu: „Die Grenzlinie zwischen Anlage und Umwelt ist heutzutage stark umstritten, doch kaum jemand würde leugnen, dass diese beiden gegensätzlichen Pole existieren.“ Zum Glück braucht diese Grenze nicht exakt gezogen zu werden, wenn man eine Theorie entwickeln will, die nützliche Einsichten in die menschliche Motivation liefert. Frühneuzeitliche Denker wie Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jaques Rousseau grübelten intensiv über den „Naturzustand“, eine Urzeit vor dem Aufkommen der menschlichen Gesellschaft. Francis Fukuyama ist einer der bedeutendsten politischen Theoretiker der Gegenwart. Sein Bestseller „Das Ende der Geschichte“ machte ihn international bekannt.

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Eine moderne Gesellschaft prägen Konflikte und Kontroversen

Gestützt auf die Erfahrung der Vereinigten Staaten von Amerika mit ihrer langen Geschichte religiöser und ethnischer Vielfalt, entwickelt der amerikanische Wissenschaftler Lee Bollinger die These, dass die freie Meinungsäußerung „unsere Fähigkeit auf die Probe stellt, in einer Gesellschaft zu leben, die unvermeidlich von Konflikten und Kontroversen geprägt ist; sie schult uns in der Kunst der Toleranz und wappnet uns gegen die Wechselfälle [einer solchen Gesellschaft]“. Da die Menschen äußerst verschieden sind, werden sie sich nicht alle für das gleiche Leben entscheiden. Sie werden nicht alle einig sein. Timothy Garton Ash erklärt: „Wie schon Immanuel Kant wusste, würde die menschliche Gesellschaft stagnieren und wäre einfältig, wenn wir das täten.“ Der britische Zeitgeschichtler Timothy Garton Ash lehrt in Oxford und an der kalifornischen Stanford University.

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Es gibt keine Freiheit inklusive Sicherheit

Das Blöde an der Freiheit ist, dass sie anstrengend ist. Viele Menschen haben gelernt, das Anstrengende zu vermeiden. Und noch blöder ist, dass an der Freiheit nichts sicher ist. Anja Förster und Peter Kreuz fügen hinzu: „Das sind verdammt schlechte Nachrichten für diejenigen, die glauben, sie könnten Freiheit inklusive Sicherheit im Paket bestellen.“ In Deutschland hat es Tradition und erscheint vielen Menschen völlig normal, ihre Freiheit zurückzuweisen. Für sie ist es völlig in Ordnung, das eigene Schicksal daran zu knüpfen, dass ein anderer etwas tut oder lässt. Viele sind das einfach so gewöhnt, im Kindergarten und in der Schule aufgerufen zu werden – oder ansonsten ihre Klappe zu halten und stillzusitzen. Anja Förster und Peter Kreuz nehmen als Managementvordenker in Deutschland eine Schlüsselrolle ein.

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Der Mensch ist alles andere als ein rationaler Optimierer

Das im 20. Jahrhundert vorherrschende Menschenbild in Ökonomie und Politik wirkt für Matthew B. Crawford im Rückblick wenig überzeugend. Es besagte, der Mensch sei ein rationales Wesen, das alle für seine Situation relevanten Informationen sammle, die besten Mittel zum Erreichen seiner Ziele auswähle und schließlich die optimale Entscheidung fälle. Die Annahme lautete, Menschen seien zu solchem Vorgehen imstande, weil sie wüssten, was sie wollten, und die Ermittlung der optimalen Entscheidung sei einfach, weil es keinen Konflikt zwischen den persönlichen Interessen gebe, die alle auf derselben, eindimensionalen „Utilitätsskala“ angesiedelt seien. Die psychologisch besser geschulten „Verhaltensökonomen“ haben diese Vorstellung vom Menschen als einem rationalen Optimierer einer gründlichen Prüfung unterzogen. In zahlreichen Arbeiten haben sie gezeigt, dass ein Mensch immer wieder Opfer des sogenannten „Planungsfehlschlusses“ wird. Matthew B. Crawford ist promovierter Philosoph und gelernter Motorradmechaniker.

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Die Frage: Was ist deutsch? ist schwer zu beantworten

Es gibt eine Frage, die endlos diskutiert wird und die lautet: „Was ist deutsch?“ Bis zum Jahr 1800 bezog sich die Antwort auf diese Frage in erster Linie auf die Sprache, nachdem die Reformation, im Gegensatz zur territorialen und konfessionellen Zersplitterung, das Deutsche als gemeinsame Sprache etabliert hatte. Jenseits dessen allerdings wurde es schnell diffus. Andreas Rödder ergänzt: „Und so wurde die Debatte über die deutsche „Identität“ zu einem Wesensmerkmal der deutschen Identität.“ „Redlich, rechtschaffen, unverstellt“ – in Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritischen Wörterbuch der hochdeutschen Mundart von 1811 wurden individuellen Charaktereigenschaften als Merkmale der Deutschen als Volk aufgeführt. Andreas Rödder zählt zu den profiliertesten deutschen Historikern und Intellektuellen. Seit 2005 ist er Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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Der Friede überwiegt die Zeiten des Krieges

Die Geschichte ist überwiegend ein durch Kriege unterbrochener Friede, nicht durch Phasen des Friedens unterbrochene Kriege. Nassim Nicholas Taleb erläutert: „Das Problem besteht darin, dass wir Menschen zu einer Verfügbarkeitsheuristik neigen, bei der die Bedeutung fälschlicherweise mit dem Statistischen verwechselt wird, und der auffällige und emotionale Effekt eines Ereignisses lässt uns glauben, dass es regelmäßiger vorkommt, als es tatsächlich der Fall ist.“ Das hilft den Menschen dabei, im Alltagsleben klug und vorsichtig zu agieren, indem sie eine zusätzliche Schutzschicht einführen, aber in der Forschung entstehen dadurch keine Fortschritte. Wenn man nämlich historische Darstellungen internationaler Angelegenheiten liest, könnte man fälschlicherweise annehmen, dass es in der Geschichte hauptsächlich um Kriege ging. Nassim Nicholas Taleb ist Finanzmathematiker, philosophischer Essayist, Forscher in den Bereichen Risiko und Zufall sowie einer der unkonventionellsten Denker der Gegenwart.

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Die universalen Menschenrechte gelten nicht überall auf der Welt

Die Aufgabe der Grenze, zu ordnen und zu kontrollieren, sichert gegenwärtig insbesondere eine geordnete Zuwanderung. An der deutschen Grenze hat der Deutsche einen Anspruch auf Einreise und ein Bleiberecht. Der Nichtdeutsche hat dieses Recht grundsätzlich nicht. Paul Kirchhof erläutert: „Diese rechtliche Unterscheidung folgt dem Demokratieprinzip, das den Staatsbürgern in ihrem Gebiet Existenz, freiheitliche Entfaltung und politische Mitwirkung sichert, den Zugang anderer zu diesem Staatsgebiet von der Aufnahmebereitschaft der Staatsbürger abhängig macht, kulturelle Eigenheiten und Prinzipien des friedlichen Zusammenlebens geordnet für andere Kulturen und Lebenssichten öffnet.“ Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Als Richter des Bundesverfassungsgerichts hat er an zahlreichen, für die Entwicklung der Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland wesentlichen Entscheidungen mitgewirkt.

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Die Demokratie wird zum Regierungsstandard für erhebliche Teile der Welt

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich ein dramatischer Wandel in der Weltpolitik vollzogen. Zwischen den frühen siebziger Jahren und der Mitte der ersten Dekade dieses Jahrhunderts fand das statt, was Samuel Huntington die „dritte Demokratisierungswelle“ nannte: Die Anzahl der repräsentativen Demokratien erhöhte sich weltweit von rund 35 auf über 110. Francis Fukuyama stellt fest: „In diesem Zeitraum wurde die liberale Demokratie zum Regierungsstandard für erhebliche Teile der Welt, jedenfalls dem Bestreben nach, wenn auch nicht unbedingt in der Realität.“ Parallel zu diesem Wandel politischer Institutionen wuchs die wirtschaftliche Interdependenz zwischen den Staaten, also das, was man als Globalisierung bezeichnet. Francis Fukuyama ist einer der bedeutendsten politischen Theoretiker der Gegenwart. Sein Bestseller „Das Ende der Geschichte“ machte ihn international bekannt.

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Die Grenze gewährt Zuflucht

Der Staat bestimmt seinen Einflussbereich und seine Grenzen, ist für fremdes Hoheitsgebiet nicht zuständig. Paul Kirchhof ergänzt: „Gäbe es keine ersichtliche Staatsgrenze, die der Staat auch einmal schließen dürfte, fände der Aggressor bei einem militärischen Angriff auf diesen Staat keinen Haltepunkt.“ Und ein Diktator, der seine Grenze überschreitet, um jenseits seines Herrschaftsbereichs Gebiete zu erobern, träfe auf keine rechtlichen Warnsignale. Das Staatsvolk entwickelt seine Kultur in seinem Gebiet. Der Staatsangehörige hat die Gewissheit, im Gebiet seines Staates leben und in dieses jederzeit einreisen zu dürfen, dort grundsätzlich vor Auslieferungen sicher zu sein. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Als Richter des Bundesverfassungsgerichts hat er an zahlreichen, für die Entwicklung der Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland wesentlichen Entscheidungen mitgewirkt.

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Nationen gründen sich oftmals auf Mythen und Erzählungen

Nationen sind, so die klassische Definition von Ernest Renan, keine materiellen Phänomene, sondern geistige Prinzipien. Sie beruhen darauf, dass eine Gruppe von Menschen sich aufgrund bestimmter Merkmale wie Staatsangehörigkeit, gemeinsamer Sprache, Kultur oder Geschichte als zusammengehörig begreift. Andreas Rödder ergänzt: „Der Realitätsgehalt dieser Vorstellungen gemeinsamer Geschichte und Kultur ist in der Regel begrenzt, vielmehr beruhen sie oftmals auf Mythen und Erzählungen.“ Der amerikanische Politikwissenschaftler Benedict Anderson hat Nationen daher als „vorgestellte“ oder gar „erfundene Gemeinschaften bezeichnet – was freilich nichts an der durchschlagenden Wirkung dieser Idee in der Geschichte der westlichen Moderne ändert. Denn Gemeinschaften, die sich als Nation verstanden, wollten im 19. Jahrhundert auch in einem Staat zusammenleben. Andreas Rödder zählt zu den profiliertesten deutschen Historikern und Intellektuellen. Seit 2005 ist er Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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Athen begründet das Mehrheitsprinzip der Demokratie

Die Demokratie ist ein Archetypus des Politischen. Bereits die homerischen Epen lassen erkennen, welche Bedeutung in Kriegergesellschaften neben physischer Stärke den Gemeindeversammlungen und Diskussionen zukam. Bernd Roeck fügt hinzu: „Der Krieg war denn auch einer der Väter der griechischen Demokratie mit ihren hochentwickelten Institutionen, stärkte er doch den Einfluss derer, die seine Hauptlast zu tragen hatten: die schwerbewaffneten Fußsoldaten.“ Die Entwicklung mag in Athen ähnlich verlaufen sein wie im Rom des 5. Jahrhunderts vor Christus, wo die Infanterie sich neben die aristokratischen Reitertruppen schob und selbstbewusst Mitsprache einforderte. Neu im Fall der athenischen Demokratie war, dass sich hier zum ersten Mal das Mehrheitsprinzip in einer größeren, arbeitsteiligen und schriftkundigen Gemeinschaft durchsetzte. Bernd Roeck ist seit 1999 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Zürich und einer der besten Kenner der europäischen Renaissance.

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Eine pluralistische Gesellschaft hat kein gemeinsames Weltbild mehr

In den demokratischen Staaten des Westens leben die Menschen heute in einer pluralisierten Gesellschaft. Und Pluralisierung bedeutet, dass alle vollen Identitäten in die Krise geraten. Oder wertfrei gesagt: Alle vollen Identitäten erfahren eine massive Veränderung. Isolde Charim fügt hinzu: „Pluralisierung der Gesellschaft meint nicht einfach Vielfalt, sie bedeutet einen tiefgreifenden Wandel gerade der europäischen Gesellschaften. Das radikal Neue an dieser Pluralität liegt nicht einfach darin, dass unsere Gesellschaften vielfältiger werden – moralisch und religiös. Das radikal Neue liegt darin, dass wir selbst uns so grundlegend verändern in einer Gesellschaft, die kein gemeinsames Weltbild mehr hat.“ Für den Einzelnen bedeutet das: Sein Selbstverständnis verändert sich, seine ehemals volle Identität erodiert. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

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Die deutsche Frage wandelte sich im Verlauf der Geschichte mehrfach

Was die Deutschen die „deutsche Frage“ nennen, heißt in anderen Ländern das „deutsche Problem“. Andreas Rödder erläutert: „Und was dies bedeutete, wandelte sich im Laufe der Zeit mehrfach.“ Im 19. Jahrhundert ging es zunächst darum, welches Territorium ein zu schaffender deutscher Nationalstaat umfassen und welche Staatsform und Verfassung er haben würde. Nach der Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 stellte sich die Frage, ob der neue, starke Staat in der Mitte des Kontinents mit der europäischen Staatenordnung vereinbar sei. Nach dem Ersten Weltkrieg richtete sich die deutsche Frage dann auf die Möglichkeit eines deutschen Wiederaufstiegs innerhalb der Pariser Friedensordnung, bevor das nationalsozialistische Deutschland diese zertrümmerte. Andreas Rödder zählt zu den profiliertesten deutschen Historikern und Intellektuellen. Seit 2005 ist er Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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Christian Schüle untersucht die Sehnsucht nach Identität

In einer Epoche des Verlustes von Grenzen mag die Sehnsucht nach Identität vor allem ein Verlangen nach Leiblichkeit in einer Welt sein, die sich im Zuge der Globalisierung zugleich entleiblicht. Christian Schüle erläutert: „Heimat ist immer auch Raum-Philosophie – die Philosophie einer spürbaren, in ihren Grenzen erfahrbaren Identität. Die Klärung dessen, was unter zeitgemäßer Identität zu verstehen sein könnte, ist mittlerweile zu einem globalen Desiderat geworden.“ Was aber begründet nationale Identität? Sprache? Sitte? Tradition? Vermutlich von allem etwas. Die Meinungsforscher des amerikanischen Pew Research Centers bestätigen, dass 80 Prozent der 2016 von ihnen Befragten Europäer der Auffassung sind, nationale Identität erfordere die Kenntnis der Landessprache. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Der Staat muss die Meinungsfreiheit schützen

Der Staat muss das einsetzen, was der Soziologe Max Weber als „Monopol auf legitime physische Gewaltsamkeit“ bezeichnet, um diese Menschen zu beschützen und diejenigen zu verfolgen, die sie zu töten drohen. Timothy Garton Ash ergänzt: „Das ein Rund-um-die-Uhr-Schutz teuer ist, muss eine demokratische Regierung ihren Worten auch Taten, sprich Geld, folgen lassen, selbst wenn manche Steuer zahlenden Wähler das nicht gutheißen werden.“ Das setzt natürlich voraus, dass nicht der Staat selbst offen oder verdeckt die Quelle gewaltsamer Einschüchterung ist, sondern sie vielmehr entschlossen und mit allen Mitteln bekämpft. Doch selbst wenn ein Staat alles in seiner Macht unternimmt, um gefährdete Personen zu schützen, wird deren persönliche Erfahrung dennoch traumatisch sein. Timothy Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University.

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Platons Idealstaat teilt die Gesellschaft in drei Klassen

Es gibt nicht viele Philosophen – und selbst wenn man einmal einen finden sollte, liegt es gleichsam in der Natur der Dinge, dass er kaum dafür zu gewinnen sein wird, die Geschicke eines Gemeinwesens zu lenken. Christoph Quarch erläutert: „Diesem Umstand kann man nur auf eine Weise beikommen: durch Bildung – paideía.“ Deshalb schickt Platon sich an, seinen Sokrates in der „Politeia“ ein kühnes Gedankenexperiment durchspielen zu lassen: ein Gemeinwesen zu skizzieren, das so organisiert ist, dass es eben die politisch-philosophische Elite zu generieren vermag, die es braucht, um seine eigene Lebendigkeit zu entfalten und zu wahren. Dabei entwickelt er den berühmt-berüchtigten „Idealstaat“ mit seinem Urkommunismus, der die Gesellschaft in drei Klassen teilt. Der Philosoph, Theologe und Religionswissenschaftler Christoph Quarch arbeitet freiberuflich als Autor, Vortragender und Berater.

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Die Mächtigen begreifen sich als Teil der Geschichte

Vier Geschichtsbilder betrachtet Christopher Clark in seinem Buch „Von Zeit und Macht“: das des Großen Kurfürsten von Brandenburg, Friedrichs II. von Preußen, Bismarcks und der Nationalsozialisten. Der Autor zeigt, was geschieht, wenn zeitliches Bewusstsein durch die Linse der Macht betrachtet wird. Es befasst sich mit den Formen der Geschichtlichkeit, welche die Machthaber sich aneigneten und ihrerseits artikulierten. Denn wer Macht hat, verortet sich in der Zeit. Er begreift sich als Teil der Geschichte und schafft damit das Geschichtsbild seiner Epoche. Christopher Clark benutzt den Begriff der „Historizität“, um eine Reihe von Annahmen zum Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft untereinander zu bezeichnen. Das Ziel seiner Studie ist es, die Geschichtlichkeit von einer kleinen Auswahl an Regimen auszuloten. Christopher Clark lehrt als Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine`s College in Cambridge.

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Die politischen Parteien sind in eine Krise geraten

Der Bürger, das war einmal der Angehörige eines definierten sozialen Standes mit bestimmten Interessen, Lebensformen und Werten, die sich in einer politischen Partei artikulierten und ausdrücken sollten. Konrad Paul Liessmann fügt hinzu: „Und der Bürger ist das Mitglied einer politischen Gemeinschaft, das je nach Lebenslage, Herkunft, Sozialisation und Perspektiven unterschiedliche, oft divergierende und rasch wechselnde Interessen, Präferenzen und Lebenskonzepte vertritt, die sich nur noch schwer im Angebot einer Partei fassen lassen und zu einer Fluktuation im Bekunden politischer Vorlieben führt.“ Traditionelle Weltanschauungsparteien mit starken Wurzeln in einer bestimmten sozialen Schicht werden mit den offenen und sich rasch wandelnden Konzepten einer Multioptionsgesellschaft konfrontiert. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

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Die europäischen Nachbarn haben mit Deutschland ein Jahrhundertproblem

Andreas Rödder erzählt in seinem neuen Buch „Wer hat Angst vor Deutschland?“ von der Rolle und der Wahrnehmung Deutschlands in den letzten knapp 150 Jahren. Die Bundesrepublik ist heute die stärkste Macht in Europa, wirtschaftlich wie politisch. Diese Stärke zieht sich ebenso durch die Geschichte wie die ambivalente Wahrnehmung Deutschlands in den Nachbarländern: als Kulturnation und als rücksichtsloser Staat. Andreas Rödder erläutert die Entstehung und die Wirkung solcher Stereotypen, aber auch der deutschen Selbstbilder, die ganz anders ausfielen. Aktuell steckt Deutschland wieder einmal in einem Dilemma. Allenthalben wird erwartet, dass es politische Führung übernimmt. Doch wenn es dies tut, ist der Vorwurf der Dominanz sofort bei der Hand. Andreas Rödder zählt zu den profiliertesten deutschen Historikern und Intellektuellen. Seit 2005 ist er Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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Ein Gemeinwesen braucht eine politische Herrschaft

Der Kernbestandteil eines jeden Gemeinwesens besteht in einem Recht, das sich wesentlich mit Zwangsbefugnis verbindet. Seinetwegen hat jedes Gemeinwesen einen Herrschaftscharakter, weshalb nicht die „geordnete Anarchie als philosophisches Leitbild des freiheitlichen Rechtsstaates“ behauptet werden kann. Otfried Höffe erklärt: „Weil angeblich jede Regierung Rechte von Individuen verletzt, taucht selbst gegen eine von den Betroffenen ausgeübte Herrschaft Skepsis auf.“ Es ist überraschend, dass ursprünglich, im Griechischen, die Herrschaftslosigkeit durchweg negativ bewertet wird. Auch in der politischen Neuzeit, etwa von Niccolò Machiavelli über Montesquieu bis Voltaire, herrscht die negative Einschätzung vor. Erst in Karl Marx` und Friedrich Engels` These vom Absterben des Staats, bei dem davon beeinflussten Herbert Marcuse, auch in der subversiven Institutionenkritik eines Michel Foucault und nicht zuletzt in antiautoritären Bewegungen lebt der Gedanke der Herrschaftsfreiheit auf. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.

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