Anfang des Jahres 2020 bestätigte ein britisches Gericht, dass der Veganismus ein religiöser oder philosophischer Glaube sei. Konrad Paul Liessmann stellt fest: „Einmal davon abgesehen, dass sich die meisten philosophischen Denkrichtungen dagegen verwehren würden, einer religiösen Haltung gleichgesetzt zu werden, kann man diese Entscheidung als Erhärtung eines lange gehegten Verdachts auffassen.“ Während klassische Religionen auch Ernährungsvorschriften kennen, werden heute Ernährungsvorschriften selbst zu Religionen. Was aber ist damit gewonnen? Was will man erreichen, wenn man Verrichtungen des alltäglichen Lebens mit einer Aura des Heiligen umgibt? Die Antwort scheint klar: Es geht darum, den Sonderstatus, den religiösen Gefühle und Einstellungen gerade in säkularen Gesellschaften genießen, für seine eigenen Ansichten und Vorlieben zu erlangen. Konrad Paul Liessmann ist Professor emeritus für Philosophie an der Universität Wien, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist.
Religionsgemeinschaft
Dogmen spielen in verschiedenen Religionen unterschiedliche Rollen
Religionsgemeinschaften sind geprägt durch religiöse Erfahrungen und Dogmen, also Glaubenssätze, die nicht zur Disposition stehen. Julian Nida-Rümelin ergänzt: „Das Verhältnis zwischen diesen beiden Grundelementen ist von Religionsgemeinschaft zu Religionsgemeinschaft sehr unterschiedlich gestaltet. In manchen spielen Dogmen die zentrale Rolle, in anderen kann von einem festen Bestandteil von Dogmen, die die Religionsgemeinschaft bestimmen, keine Rede sein.“ Auch die abrahamitischen Religionen, also Judentum, Christentum und Islam, unterscheiden sich diesbezüglich voneinander. Nicht-monotheistische Religionen verzichten oft ganz oder jedenfalls weitgehend auf Dogmengebäude. Wo immer aber religiöse Dogmen eine Rolle spielen, führt dies zur Unterscheidung zwischen denjenigen, die diese Dogmen nicht infrage stellen, und solchen, die sie anzweifeln oder nicht akzeptieren. Julian Nida-Rümelin gehört zu den renommiertesten deutschen Philosophen und „public intellectuals“.