Die Literatur wollte die Realität schonungslos abbilden

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wollte die Kunst, wollte die Literatur nicht nur schonungslos die Realität abbilden, aus dem Gefängnis der Rücksichtsnahmen ausbrechen und einen neuen Frei- und Gestaltungsraum erobern – sie wollte sich darüber hinaus Realität schaffen. Jürgen Wertheimer nennt Beispiele: „Charles Dickens war es gelungen, die Sozialgesetzgebung seines Landes – etwa was die Kinderarbeit betrifft – entscheidend zu beeinflussen. Leo Tolstoi errichtete Schulen und revolutionierte die Agrarwirtschaft, Émile Zola trat 1898 in der sogenannten Dreyfus-Affäre mit dem offenen Brief „J´accuse“ für den verleumdeten Offizier jüdischer Herkunft ein und wurde zu einer Gefängnishaft verurteilt.“ Émile Zola floh nach England und kehrte 1899 amnestiert und gefeiert zurück; als er 1902 starb wurde er im Pantheon beigesetzt. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

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Charles Dickens wurde als „König der Herzen“ gefeiert

Wer produziert Kunst? Für wen? Und wozu? Grundsätzliche Fragen dieser Art erlangten im Verlauf des 19. Jahrhunderts brennende Aktualität. In seinem Essay „Was sollen wir den tun?“ (1886) stellt Leo Tolstoi (1828 – 1910) sie mit großer Insistenz. Jürgen Wertheimer blickt zurück: „Einige Jahrzehnte früher enthüllt Honoré de Balzac (1799 – 1850) den ökonomischen und soziologischen Kern jeder Kunstproduktion, während Charles Dickens (1812 – 1870) sie als Medium sozialer Verbesserung einzusetzen versucht.“ Von seinen Zeitgenossen wurde er als „König der Herzen“ gefeiert. „Nostro Carlo Dickens è morto“, titelten italienische Zeitungen, als die Nachricht vom Tod des Dichters am 9. Juni 1870 um die Welt ging, und dem Feuilletonisten einer Genueser Zeitung kam es vor, als sei die Sonne am Himmel ausgelöscht. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

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