Die Wahrheit bestimmten die Autoritäten

Adam Smith war Teil einer großen intellektuellen Bewegung im späten 18. Jahrhundert, der sogenannten Aufklärung. Diese hat man oft mit der naturwissenschaftlichen Revolution in Verbindung gebracht. Joseph Stiglitz weiß: „Sie beruhte auf Bewegungen, die in den vorangegangenen Jahrhunderten aufgekommen waren, beginnend mit der protestantischen Reformation.“ Vor der Reformation im 16. Jahrhundert, ursprünglich von Martin Luther angestoßen, war die Wahrheit etwas, was nur die Autoritäten bestimmten. Die Reformation stellte die Autorität der katholischen Kirche infrage. Und in einem 30-jährigen Krieg, der um 1618 begann, kämpften die Europäer auch darum, welche der beiden Konfessionen fortan auf dem Kontinent vorherrschen sollte. Joseph Stiglitz war Professor für Volkswirtschaft in Yale, Princeton, Oxford und Stanford. Er wurde 2001 mit dem Nobelpreis für Wirtschaft ausgezeichnet.

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Werte müssen immer neu verhandelt werden

Viele Menschen glauben, es gäbe ein Allheilmittel für oder eigentlich gegen die Pluralisierung. Isolde Charim erläutert: „Mehr noch als die Leitkultur aber mit dieser eng verwoben ist das neueste Kaninchen aus dem Allheilmittel-Hut, die Werte.“ „Unsere“ Werte. Bisher führte die Bildung das Ranking der Allheilmittel an. Nun sind es die Werte. Wobei diese Diskussion meist unterstellt, diese „unsere“ Werte seien ein fixer Katalog, ein feststehender Kanon – und nicht etwas, das immer wieder neu verhandelt wird und werden muss. Dabei unterschlägt diese Diskussion einen zentralen Wert der Demokratie: die Verhandelbarkeit selbst. Die Möglichkeit also, ebenjene Werte immer wieder zu verhandeln und damit umzuschreiben. Die Debatte um die Werte dreht sich immer um das Akzeptieren der Grundwerte. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

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Das Zeitalter des Anthropozäns hat begonnen

Dort, wo die Natur Ressourcen anbietet, wird sie selbst von höchst bescheidenen Gesellschaften vielfältig in Dienst genommen. Zudem beutet man sie oft genug auch aus, wodurch aus der zunächst unberührten Vorgabe die mehr und mehr kultivierte Natur entsteht. Otfried Höffe erklärt: „Schon weit länger als der Atmosphärenchemiker Paul Crutzen 2002 annimmt, leben wir in jenem Erdzeitalter des Anthropozän. In diesem ist der Mensch („Anthropos“) zum stärksten Antreiber ökologischer, selbst geologischer Prozesse geworden.“ Offensichtlich ist die dabei vorgenommene Kultivierung ein Freiheitsprozess in beiden Kernbedeutungen. Als eine allerdings nie endende Überwindung von Gefahren erhöht sie die negative Freiheit. Soweit dabei Erträge gesteigert und Arbeitsvorgänge erleichtert. Überdies schafft man Arbeitsplätze, auch Annehmlichkeiten und Wohlstand geschaffen. So zeichnet sich die Indienstnahme der Natur durch einen emanzipatorischen Charakter aus. Soweit sie aber eine neuartige Lebenswelt schafft, wächst die andere, positive Freiheit. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.

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Das Recht kann sich in Normen verwandeln

Das Recht ist eine Sammlung von Verhaltensregeln, die durch eine Kombination von Statuten und Gerichtsurteilen sorgfältig und detailreich formuliert ist. Die Rechtsprechung setzt es in einem Geltungsbereich durch, der sich gewöhnlich auf einen Staat oder den klar definierten Teil eines Staates erstreckt. Damit ist jedoch die gesamte Bandbreite der Möglichkeiten noch nicht erfasst. Timothy Garton Ash erklärt: „Wenn wir „das Recht“ sagen, denen wir in der Regel an das „Strafrecht“: Wenn du dies oder jenes sagst oder tust, wirst du eingesperrt. Doch es gibt noch andere zunehmend weichere Formen des Rechts. Diese gehen schleichend in den Bereich bloßer Normen über.“ Es gibt das Zivilrecht, und es gibt das sogenannte „expressive Funktion“ des Rechts und Formulierungen, die eine allgemeine Botschaft verkünden, wie etwas in einer gegebenen Gesellschaft sein sollte. Timothy Garton Ash lehrt in Oxford europäische Geschichte und ist einer der angesehensten politischen Kommentatoren aus Großbritannien.

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Die Menschheit ist zu moralischem Fortschritt fähig

Markus Gabriel, Deutschlands weltweit bekanntester Gegenwartsphilosoph möchte durch sein neues Buch „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“ den Menschen Mut machen. Er vertritt darin die These, dass die Menschheit zu moralischem Fortschritt fähig ist. Er zeigt, warum es nicht verhandelbare, universale Grundwerte gibt, die für alle Menschen gelten. Sie müssen zur Basis des menschlichen Verhaltens gemacht werden, um allen ein gutes Leben zu ermöglichen. Markus Gabriel hat ein philosophisches Handbuch geschrieben, das einen Entwurf der Aufklärung gegen den Wertenihilismus der Gegenwart artikuliert. Die Menschheit braucht dringend eine innovative Form der Kooperation von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Seit 2009 hat Markus Gabriel den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne und ist dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

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Im Silicon Valley herrscht wenig Menschenkenntnis

Was die digitale Technik bringt, kann sowohl ein Rückschritt als auch ein Fortschritt sein. Richard David Precht kennt die Gefahren des kulturellen Rückschritts: „Viele visionären Ideen, die aus dem Silicon Valley kommen, sind bei näherer Hinsicht keine. Nicht wenigen mangelt es an Menschenkenntnis.“ Und ersonnen wird, was die Technologie hergibt, und nicht, was viele Menschen oder die Gesellschaft dringend brauchen. Vieles, was sich technisch perfektionieren lässt, muss und sollte gar nicht perfektioniert werden. Jedenfalls nicht, ohne damit Folgen zu produzieren, die niemand im Sinn hat und keiner tragen will. Wenn alles effizient und perfekt optimiert ist, lässt sich nichts mehr verändern oder variieren, ohne die Dinge weniger effizient zu machen. Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

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Es gibt keinen Weg zurück in eine homogene Gesellschaft

Die Vorstellung von Pluralisierung beruht auf dem grundlegenden Missverständnis, dass die Vielfalt, dass die Pluralisierung eine Gesellschaft unverändert ließe. Woher rührt diese falsche Vorstellung. Isolde Charim erläutert: „Sie rührt daher, dass man glaubt, gesellschaftliche Vielfalt sei eine Ansammlung unterschiedlicher Kulturen und Religionen. Gesellschaftliche Vielfalt sei einfach eine Addition.“ Da gäbe es das Bestehende, das sind die Einheimischen, und zu denen käme dann einfach etwas Neues hinzu: beispielsweise die Türken oder die Jugoslawen. Aber Pluralisierung ist keine Addition. Es ist für Isolde Charim das Gebot der Stunde zu verstehen, was Pluralisierung eigentlich bedeutet. Und da muss man zweierlei festhalten: Erstens: Pluralisierung ist ein unhintergehbares Faktum. Es gibt keinen Weg zurück in einen nicht-plurale, in eine homogene Gesellschaft. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

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Das Vertrauen befindet sich weltweit in einer Krise

Jede Studie über Vertrauen fängt mit der großen Krise an. Das einflussreiche „Edelman Trust Barometer“ formuliert 2017 unumwunden: Überall auf der Welt befindet sich das Vertrauen in einer Krise. Martin Hartmann erläutert: „Ob Unternehmen, Regierungen, Nichtregierungsorganisationen oder die Medien – fast überall leiden diese Institutionen unter einem Vertrauensschwund.“ Entsprechend dramatisch und alarmistisch sind die Formulierungen: Das „System“ sei zerbrochen. Die Führungsebenen in Wirtschaft und Politik hätten an Glaubwürdigkeit verloren. Eine Welt des Misstrauens breite sich aus. Für die Daten von 2017 gilt dabei folgende Auffälligkeit: Vor allem die allgemeine Bevölkerung verliert ihr Vertrauen, während die Daten der Meinungsführer stabil bleiben oder sogar steigen. Die Diskrepanz zwischen den Eliten und der Bevölkerungsmehrheit bleibt hoch und scheint sich sogar zu vergrößern. Martin Hartmann ist Professor für Praktische Philosophie an der Universität Luzern.

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John Searle hat die Sozialontologie begründet

Die philosophische Teildisziplin der Sozialontologie hat insbesondere John Searle begründet und salonfähig gemacht. Sie beschäftigt sich mit der Frage, warum eigentlich manche Gegenstände und Tatsachen als „sozial“ gelten. Was unterscheidet einen Mondkrater von einem Geldschein oder einem Satz. Markus Gabriel antwortet: „Geld und Sätze gibt es nur im Kontext von Gruppendynamiken. Mondkrater hingegen gibt es einfach so, jedenfalls ohne Zutun menschlicher Gruppendynamiken.“ Was aber macht Geld zu etwas Sozialem, was Mondkratern fehlt. Der italienische Philosoph Maurizio Ferraris antwortet auf diese Frage auf eine unzureichende, wenn auch aufschlussreiche Weise. Er sagt, dass etwas genau dann sozial ist, wenn es ein Dokument gibt, dank dem es existiert. Seit 2009 hat Markus Gabriel den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne und ist dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

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Das Soziale einer Gesellschaft ist relativ stabil

Wären alle Innovationen, von denen heute die Rede ist, wirklich innovativ, wäre das Leben grauenhaft. So viel Neues hielte niemand aus. Wenn alles so voll von Neuerungen wäre, wie es die Werbung und der Zeitgeist verheißen, müsste man sein Leben praktisch jeden Tag neu erfinden. Und dies schafft auch der größte Innovationsfreund nicht. Konrad Paul Liessmann erklärt: „Angesichts der Omnipräsenz der Rhetorik der Innovation drängt sich geradezu der Verdacht auf, dass so viel von Innovationen die Rede sein muss, weil uns nicht wirklich viel Neues mehr einfällt.“ Schon das Alte Testament ist von einer grundlegenden Skepsis gegenüber dem Neuen erfüllt. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

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In einer technokratischen Gesellschaft gibt es keine Bindungen

Die in der Leistungsgesellschaft vorherrschende Bildung hat die moralischen und politischen Lehren aus den antiken philosophischen Schulen verdrängt. Nicht zufällig sprach Karl Marx von gesellschaftlichem Atomismus und knüpfte damit an Epikurs Philosophie an. Isabella Guanzini erläutert: „Damit meinte der eine Gesellschaft ohne Bindungen, in der die Subjekte autonom ihr Leben führen. Sie existieren getrennt vom gesellschaftlichen Beziehungsgeflecht, in einem individualistischen und grundsätzlich egoistischen Zustand.“ Auch Theodor W. Adorno betont, welch furchtbare Ausstrahlungskraft das Ideal der Kälte und Effizienz in der technokratischen Gesellschaft der Vor- und Nachkriegszeit hatte. Individualistische Teilchen bewegen sich durch ein technisiertes Umfeld, von dem sie sich leicht absorbieren lassen, und bilden so gleichgültigen Gewissens ein Magnetfeld. Isabella Guanzini ist Professorin für Fundamentaltheologie an der Universität Graz.

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Francis Fukuyama stellt die Ideen Jean-Jacques Rousseaus vor

Der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau hatte zwei separate Rezepte dafür, die Menschheit aus der Katastrophe der Ungleichheit und Gewalt herauszuführen. Das erste Wird in seinem „Gesellschaftsvertrag“ umrissen und bietet eine politische Lösung an. Durch sie sollten die Bürger infolge der Entstehung eines „Gemeinwillens“, der sie in republikanischer Tugend vereint, zur natürlichen Gleichheit zurückkehren. Sie kooperieren miteinander in einer politischen Union, die jedoch keine Unstimmigkeit und keinen Pluralismus duldet. Francis Fukuyama stellt fest: „Diese Lösung ist zu Recht als proto-totalitär bemängelt worden, da sie die Meinungsvielfalt unterdrückt und eine strenge Uniformität des Denkens erfordert.“ Das zweite Rezept ist nicht politischer, sondern individueller Art. Francis Fukuyama ist einer der bedeutendsten politischen Theoretiker der Gegenwart. Sein Bestseller „Das Ende der Geschichte“ machte ihn international bekannt.

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Das Prinzip der Freiheit darf niemals aufgegeben werden

An dem für sie wesentlichen Prinzip der Freiheit zeigt die Moderne, dass sie kein schlechthin neues Ziel verfolgt, sondern eine anthropologisch Grundintention, eben die Freiheit, zur Blüte, am liebsten sogar zur Vollendung bringen will. Otfried Höffe warnt: „Wer das Prinzip Freiheit aufgibt, setzt also mehr als nur das Projekt der Moderne und Einsichten ihrer großen Denker aufs Spiel.“ Allerdings erweist sich die Freiheit samt Moderne als ein vielschichtiges, inneren Spannungen ausgesetztes, in mancher Hinsicht sogar widersprüchliches Ziel. Otfried Höffe versteht also die Freiheit als ein facettenreiches, intern spannungsgeladenes und von Widersprüchen durchwirktes Phänomen. Viele Vorhaben und Visionen, erneut sowohl der Menschheit im Allgemeinen als auch der Moderne im Besonderen, sind von einem Freiheitsgedanken inspiriert. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.

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Werte verleihen einem Menschen Sicherheit

Zu den sensibelsten Bereichen eines Menschen gehören seine Werte, besonders der Selbstwert. Werte sind die als erstrebenswert oder moralisch gut betrachteten Eigenschaften von Menschen, Verhaltensweisen, Handlungsmuster und Charaktereigenschaften, aber auch von Ideen, Sachverhalten und Gegenständen. Reinhard Haller fügt hinzu: „Aus solchen Wertvorstellungen bilden wir unsere Wertesysteme und darauf aufbauend können wir Wertentscheidungen treffen.“ Werte sind ein wichtiges Element einer jeglichen Gesellschaft und Kultur. Sie werden durch ebendiese Kultur und Gesellschaft weitergegeben. Werte geben metaphysisch-religiöse Orientierung, prägen die soziale Ausrichtung und sind zentraler Bestandteil des humanistischen Denkens. Die Wertphilosophie, die ihre Höhepunkte in der Güterethik des Aristoteles und in der „Idee des Guten“ von Platon hatte, wurde später von der Moraltheologie aufgegriffen. Reinhard Haller ist Chefarzt einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik mit dem Schwerpunkt Abhängigkeitserkrankungen.

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Der Wert einer Gesellschaft wird unterschiedlich beurteilt

Eine Frage, die immer wieder gestellt wird, lautet: Worin besteht der Wert einer Gesellschaft beziehungsweise einer Nation? Die Anhänger eines Weltbildes, das sich primär an sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit orientiert, würden sagen: Der Wert einer Gesellschaft bemisst sich, welches Leben sie den Schwächsten ihrer Mitglieder ermöglicht. Thea Dorn fügt hinzu: „Anhänger eines Weltbildes, das Exzellenz im Blick hat, würden sagen. Der Wert einer Gesellschaft bemisst sich in erster Linie an ihren Leistungen auf den verschiedensten Gebieten – in der Kunst, in der Wissenschaft, in der Technik, in der Wirtschaft, im Sport.“ Man kann auch sagen, dass eine Gesellschaft, die das Streben nach Exzellenz aufgibt, sich der Schafherde annähert, die Immanuel Kant beschreibt. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

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Das Grundgesetz hält Deutschland zusammen

Das Grundgesetz Deutschlands ist eine großartige Errungenschaft, auf welche die Deutschen stolz sein können. Hier sind die Werte festgeschrieben, auf das Land zusammenhalten. Georg Pieper erläutert: „Sie garantieren, dass jeder sagen kann, was er denkt; lieben kann, wen er will; glauben kann, an wen oder was er mag; sein Leben gestalten kann, wie es seinen Vorstellungen entspricht.“ Sich dazu zu bekennen ist nicht nur eine Voraussetzung für den gesellschaftlichen Frieden, sondern kann noch dazu dem Einzelnen sehr viel Stärke geben. Das ist für Georg Pieper einer der wichtigsten Wege, Ängste in etwas Positives umzuwandeln. Auch die Mehrzahl der Mitbürger islamischen Glaubens empfindet eine klare Loyalität zum Grundgesetz. Gerade wenn sie Erfahrungen mit restriktiven politischen Systemen gemacht haben. Dr. Georg Pieper arbeitet als Traumapsychologe und ist Experte für Krisenintervention.

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Gesellschaften funktionieren nicht nach „natürlichen“ Gesetzen

Normativität und Moral entstehen aus der Wirklichkeit des Lebens, weil und indem sie sie strukturieren. Die meisten Menschen handeln fast stets mit „Sinn“, und menschliches Handeln hat daher nicht nur eine Wirkung in der physischen Außenwelt, sondern auch immer „Sinn“ in der Kommunikation. Thomas Fischer fügt hinzu: „Die schönste Moral nutzt nichts, wenn sie sich im Appell erschöpft, die Umwelt und die anderen mögen sich bitte der Moral des Sprechers gemäß verhalten.“ Um die Moralen herum sind daher von Anfang an Strukturen und Mechanismen gebaut, die eine „herrschende“ Moral hervorbringen und stabilisieren können. „Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“, definierte Max Weber. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

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In der modernen Gesellschaft sind viele Menschen tief verunsichert

Ein Übermaß an Liberalität und Egalitarismus reduziert die menschliche Gemeinschaft auf die engen Grenzen der häuslichen Sphäre. Die große Gesellschaft ist sich selbst überlassen, letztlich jedoch ist der Einzelne dem Konformismus der öffentlichen Meinung unterworfen. Isabelle Guanzini stellt fest: „Die demokratische Gleichheit löst gesellschaftliche Fesseln und überlässt das Individuum dem Despotismus einer „gewaltigen, bevormundenden Macht“, die in bürokratischen Systemen und neuen Intoleranzen gegenüber Differenzen und Abweichungen besteht.“ Die konformistische Leidenschaft der modernen Gesellschaft braucht keine Gewalt anzuwenden, um das Gewissen der Menschen zu konditionieren und ihnen Normen aufzuzwingen. Sie benutzt „milde“ Praktiken der Disziplinierung, die auf eine unbewusste Verinnerlichung ihrer Dispositive zielen. So wirken sie, ohne reflektiert zu werden. Isabella Guanzini ist Professorin für Fundamentaltheologie an der Universität Graz.

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Die Wirtschaftswissenschaft verliert immer mehr an Ansehen

Christian Felber stellt in seinem neuen Buch „This is not economy“ Grundsatzfragen nach den Wurzeln der Wirtschaftswissenschaft und den Gründen ihrer fundamentalen Verirrungen. Und er macht einen konkreten und konsistenten Vorschlag für eine ganzheitliche Wirtschaftswissenschaft. Über der Einleitung steht der Satz von Paul Krugman: „Moderne Makroökonomie ist bestenfalls spektakulär nutzlos und schlimmstenfalls klar schädlich.“ Christian Felber schließt daran mit einem Kernwiderspruch der Wirtschaftswissenschaften an: Der Mainstream der Forschung glaubt tatsächlich, dass die neoklassische Ökonomik eine wertfreie Wissenschaft sei. Das ist seiner Meinung nach nicht nur eine mächtige Selbst- und Publikumstäuschung, denn wenn das eigene Wertesystem nicht transparent gemacht wird, handelt es sich um Ideologie. Umso mehr, wenn damit die bestehende Ordnung legitimiert wird, anstatt dringend benötigte Alternativen zu entwickeln. Christian Felber lebt als Autor in Wien.

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Eine moderne Gesellschaft prägen Konflikte und Kontroversen

Gestützt auf die Erfahrung der Vereinigten Staaten von Amerika mit ihrer langen Geschichte religiöser und ethnischer Vielfalt, entwickelt der amerikanische Wissenschaftler Lee Bollinger die These, dass die freie Meinungsäußerung „unsere Fähigkeit auf die Probe stellt, in einer Gesellschaft zu leben, die unvermeidlich von Konflikten und Kontroversen geprägt ist; sie schult uns in der Kunst der Toleranz und wappnet uns gegen die Wechselfälle [einer solchen Gesellschaft]“. Da die Menschen äußerst verschieden sind, werden sie sich nicht alle für das gleiche Leben entscheiden. Sie werden nicht alle einig sein. Timothy Garton Ash erklärt: „Wie schon Immanuel Kant wusste, würde die menschliche Gesellschaft stagnieren und wäre einfältig, wenn wir das täten.“ Der britische Zeitgeschichtler Timothy Garton Ash lehrt in Oxford und an der kalifornischen Stanford University.

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Fremdenfeindlichkeit gedeiht vor allem in unsicheren Gesellschaften

Fremdenfeindliche Einstellungen und Überzeugungen gedeihen besonders gut in einer Gesellschaft, die ihres Zusammenhalts nicht mehr gewiss ist und daher ihren Mitgliedern keinerlei Sicherheitsversprechen mehr anbieten kann. Dieter-Lantermann fügt hinzu: „So muss jeder selbst für seine eigenen Sicherheiten sorgen, ohne Netz und doppelten Boden, ohne die Gewissheit einer festen sozialen Verortung, ohne selbstverständlich geltende Normen, Verhaltensregeln und Handlungsorientierungen, die das Miteinander in der Gesellschaft verlässlich und berechenbar organisieren und leiten. Menschen, die sich ihrer sozialen und gesellschaftlichen Zughörigkeit, Wertschätzung und sozialen Identität unsicher geworden sind, neigen häufig zu zugespitzten fremdenfeindlichen Haltungen, von denen sie sich neue soziale und persönliche Sicherheiten versprechen. Auf die Frage worin der „Sicherheitsgewinn“ solcherart radikaler Haltungen gegenüber Zuwanderern aus fremden Ländern und Kulturen liegt, weiß Ernst-Dieter Lantermann eine Antwort. Ernst-Dieter Lantermann war von 1979 bis 2013 Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Universität Kassel.

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Jean-Jacques Rousseau misstraut der Aufklärung

Die Rebellion gegen eine alles zermalmende Moderne ist kein Phänomen der Gegenwart. Sie hat ihre Wurzeln in der Zeit der Aufklärung und beginnt mit einem erbitterten Streit zwischen zwei brüderlichen Freunden, Jean-Jacques Rousseau und Denis Diderot. Philipp Blom weiß: „Persönliche und intellektuelle Fragen vermischen sich in diesem jahrelangen Disput, aber sie brachten Rousseau dazu, den aufgeklärten Idealen seiner Freunde zu misstrauen.“ Die Zivilisation, die Großstadt und die Unterdrückung aller Menschen gehören zusammen, räsonierte er, die Aufklärung befreit nicht, sondern entfernt die Gesellschaft mit ihrer kultivierten Kompliziertheit immer weiter von ihrer ursprünglichen Tugend und versklavt sie gleichzeitig durch Mode, gesellschaftliche Anerkennung und Lohnarbeit. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford und lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien.

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Die Gefühlsarbeit ist das Schmiermittel der Gesellschaft

Wer denkt, nur die Liebe stellt den Gefühlshaushalt eines Menschen auf die Probe, irrt. Auch im Arbeits- und Geschäftsleben warten heutzutage zahlreiche emotionale Herausforderungen. Ulrich Schnabel nennt ein Beispiel: „Schon das Betreten eines modernen Kaufhauses ähnelt dem Eintauchen in ein sorgfältig temperiertes Bad der Emotionen, das einen wärmend umhüllt und zielgerichtet umschmeichelt.“ Angenehm plätschernde Hintergrundmusik, appetitlich aufgebaute Waren, einladend lächelnde Mitarbeiter – die Kunden sollen sich wohl und geborgen fühlen und den Wunsch entwickeln, möglichst viel von dieser Stimmung in bezahlter Form mit nach Hause zu nehmen. Kein Geschäft kommt heute ohne Emotionen aus. Wer erfolgreich sein will, muss vielmehr das Spiel auf der Klaviatur der Gefühle beherrschen, und zwar sowohl auf der eigenen wie auf der des Gegenübers. Ulrich Schnabel ist Wissenschaftsredakteur der Wochenzeitung „Zeit“ und Autor mehrerer erfolgreicher Sachbücher.

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Das ganze Leben ist von Philosophie durchdrungen

Über die Kunst in all ihren Facetten nähert sich Ger Groot in seinem Buch „Und überall Philosophie“ den großen Denkern der Philosophiegeschichte. Ger Groot schreibt: „Man kann Kant und Schiller, Nietzsche und Sartre in der Kunst sehen und hören. Philosophie ist überall, in allen Aspekten der Gesellschaft, nicht nur in den Künsten, sondern auch in der Werbung und in Grafitis.“ Der Autor möchte sichtbar und hörbar machen, wie die selbstbewussten und zugleich unsicheren Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts zum dem entwickelt haben, die sie heute sind. Die philosophische Geschichte, die dieses Buch erzählt, ist in eine Vielzahl von Bildern und Klängen eingebettet, wenn man sie nur scharf genug in Augenschein nimmt. Ger Groot lehrt Kulturphilosophie und philosophische Anthropologie an der Erasmus-Universität Rotterdam und ist Professor für Philosophie und Literatur an der Radboud Universität Nijmegen.

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Die Polarisierung von Konsum und Arbeit ist nicht mehr angemessen

Lange Zeit wurde Konsum mit Verschwendung, Müßiggang und Passivität assoziiert und als das Gegenteil von Arbeit angesehen. Wolfgang Ullrich erläutert: „Es galt: Konsumiert werden kann nur, was zuvor produziert wurde, und allein deshalb ist unproduktiv, wer konsumiert.“ Konsum zerstört sogar, was durch Arbeit hergestellt wurde. In der gegenwärtigen Wohlstandsgesellschaft – so Wolfgang Ullrichs These – ist diese Polarisierung von Konsum und Arbeit nicht mehr angemessen. Vielmehr wird Konsum sogar als Arbeit erfahren und Arbeit gerade auch beim Konsumieren geleistet. Die Schrift „Theorie der feinen Leute“ von Thorstein Veblen ist aus dem Gegensatz zwischen Müßiggang und Verschwendung einerseits und produktiver Arbeit andererseits entwickelt. Prof. Dr. Wolfgang Ullrich war bis 2015 Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Seither arbeitet er als freier Autor, Dozent und Berater.

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